Das Vermaechtnis
Alēi’na wiegt bescheiden ihren Kopf.
„Du kannst den imposanten Stein sehen, wenn du weiter hier rüberkommst – jedenfalls seine Spitze, die aus dem Grün herausragt. Paare oder auch Einzelne gehen dorthin, legen Blumen ab und beten, wenn sie sich Kinder wünschen, die jedoch noch auf sich warten lassen. Ich wundere mich immer, dass dort so viele Blumen liegen. Es sind doch nur wenige, denen die Götter den Nachwuchs versagt haben…“
„Die meisten Blumen legen sie wohl als Dank hin“, überlegt Alēi’na .
„So wird es sein. Schon seit jeher kommen Meeresschildkröten zu diesem Strand, um ihre Eier in den Sand abzulegen. Sie brauchen die Wärme des sonnenbestrahlten Sandes, um sich zu entwickeln. Die kleinen Schildkröten wissen genau, was zu tun ist, um zu überleben. Wenn sie geschlüpft sind, eilen sie schnell zum rettenden Meer, denn es gibt Vögel, die diesen Zeitpunkt zu wissen scheinen und oft schon Tage zuvor mit lautem Geschrei auf den Felsen sitzen und lauern. Glücklicherweise sind sie auch irgendwann satt, sodass es schon viele kleine Schildkröten ins Meer schaffen. Nun, dort müssen sie sich vor den Robben in Acht nehmen…“ Er macht eine kleine Pause, denn er spürt ihre Neugier.
„Wie sind der Schildkrötenfelsen und der Abgeschnittene Berg entstanden? Sie sehen nicht aus wie gewöhnliche Felsen oder Klippen. Sie sehen aus, als gäbe es jeweils eine Geschichte dahinter, die ihre Form erklärt. Der Schildkrötenfelsen hat eine sehr freundliche Ausstrahlung, der Abgeschnittene Berg dagegen eine unheimliche, fast traurige“, fragt und überlegt sie laut.
„Du liegst schon ganz richtig mit deinen Vermutungen. Beginnen wir also mit der Geschichte um den Abgeschnittenen Berg . Wie du dir sicher denken kannst, war dieser nicht immer abgeschnitten, sondern lief rund und sanft weit hinaus ins Meer. Du siehst seine dunkle Farbe, wie so vieles Gestein hier auf der Insel und ich habe dir schon erklärt, dass dies das Gestein aus der Erde ist, das Pele aus dem Berg oder den Bergen emporschleudert. Wer weiß, wie lange es noch dauern wird, bis die große Göttin Pele ihre Geburtswehen wieder bekommt mit ausströmendem gelben Rauch und Funken. Dann wird sie ihre Feuerbrut hoch hinauswerfen, die dann den Berg hinab fließt, um unter lautem Zischen und Tosen ins Meer einzutauchen. Mit jedem Strom von Lava fließt neues Gestein hinab, das erkaltet und aushärtet.
So wächst der Berg, so wächst die Erde. In Acht nehmen müssen wir uns nur, wenn sie ihre Kinder in unsere Richtung hinausschickt, um das Land zu erhöhen. In Acht nehmen müssen wir uns vor der eingeschlossenen Luft. Der Stein, so hart er ist, so kann er auch sehr brüchig sein und besonders durch den harten Wellenschlag auf die Felsen abbrechen und einen Unwissenden mit sich ins Wasser reißen. Es können auch sehr große Brocken abbrechen. Ich denke mir, dass es dementsprechend auch tief unten im Wasser geschieht. Dann heißt es schnell laufen und weg vom Strand, denn dass Wasser dehnt sich kurz aus und reißt alles mit sich, was nicht fest und tief verwurzelt ist.
So geschah es um den Abgeschnittenen Berg :
Kanaloa , der Gott des Meeres, kündete aus der Ferne schon unheilvolle Wolken an. Schön für Lono , der sie herbeiwirbelte, doch für die Fischer voller Gefahr. Alle Fischer wollten sich auf die direkte Heimfahrt begeben. Doch einer von ihnen war berauscht von dem guten Fang und pries Kuula , den Gott der Fischer. Er wollte noch bleiben, denn er meinte stur, die Stimme des Gottes gehört zu haben, der ihm den größten Fang seines Lebens versprach. Er ließ sich nicht überzeugen mitzukommen. Die anderen entschieden schließlich, ihn zurückzulassen, um nicht das Leben aller zu gefährden. Sie kamen gerade rechtzeitig zurück, als das Unwetter begann. Doch Kanaloa hat ihn nicht retten können, denn wenn Lono seinen Wettertanz aufführt auf hoher See, dann tanzt er seinen Tanz, frei und ungehindert und man lässt ihn tanzen und wartet ab, bis er sich wieder beruhigt hat.
Ein Sturm, wie sie ihn noch nicht kannten, zog über das Meer und die Inseln. Drei Tage und drei Nächte soll es angedauert haben und der Tag sei wie die Nacht gewesen. Die Frau des Fischers ging am Abend des ersten Tages hinaus zum Berg des Nachtlichts , so hieß der Berg, bevor er den Namen Abgeschnittener Berg bekam, nämlich früher. In dem tobenden Unwetter versuchte sie verzweifelt, ein Feuer zu entfachen. Der Berg war an einer Stelle ziemlich weit
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