Das Vermaechtnis
den Sonnengott, hatte sie bereits zu Sonnenaufgang dargereicht, als seine ersten Strahlen einen neuen Tag ankündigten. Schamasch ist Richter über Erde und Unterwelt, denn er sieht alles, was oben und unten geschieht, da er tagsüber auf einem Boot am Himmel segelt und in der Nacht auf der gegenüberliegenden Seite in der Unterwelt. Er ist der Gott der Wahrheit, Gerechtigkeit und des Rechts und wird auch in diesen Themen um Rat und Unterstützung angerufen.
Viele Tage hatte Encheduanna-Kyr im Tempel mit allen zusammen aufgeräumt und alles wieder, soweit es vorhanden und nicht geraubt oder zerstört worden war, in den ursprünglichen Zustand versetzt.
Zehn ihrer getreuen Dienerinnen waren verschwunden, verschleppt, gegen ihren Willen. Wo immer sie jetzt sein mögen, Innana , bitte, möge es ihnen gut gehen.
Ihr Oberaufseher war sofort erschienen, als man ihm von ihrer Rückkehr berichtete. Er, Iah-Sku-La , der schon zu den engsten Vertrauten ihres Vaters zählte, der als Leibwächter und Lehrer seit ihrer Kindheit an ihrer Seite war; er war mehr ihr Vater als ihr leiblicher Vater.
Ihr Vater war der König, der König eines Großreiches und auch ihr König. Sie, Encheduanna-Kyr , hatte eine Funktion für den König. Als Vater war er für sie in weiter Ferne, aber Iah-Sku-La war immer da, wenn sie ihn brauchte. Er kümmerte sich um sie mit Leib und Seele, und er war es auch, der sie, als Ushlaran-Lugal-Anes Truppen den Tempel stürmten, verteidigte mit all seinen Kräften. Doch Iah-Sku-La war nicht mehr der Jüngste und nicht ausdauernd und auch nicht zum Kampfe geboren und ausgebildet. Er kam zu spät, mit ihr war Ushlaran-Lugal-Ane schon fertig, aber, er war gekommen. Fürdie beiden sabbernden Gehilfen Ushlaran-Lugal-Anes war es ein leichtes Spiel und sie schlugen den alten Mann schnell nieder, laut lachend und spuckten auf ihn, als er dalag, reglos, in einem See aus Blut. Das war das letzte, was sie von ihm gesehen hatte, das letzte, was sie von ihm in Erinnerung hatte. Ein Bild, das sie beinahe in den Wahnsinn getrieben hatte.
„Nein! Nanna , es kann nicht sein! Nein! So nicht, nicht er! Er war wie ein Vater zu mir! Es darf nicht sein, ich glaube es nicht! Hilf ihm! Hilf mir! Ich flehe dich an!“, hatte sie geschrieben und war danach zusammengebrochen. Wochenlang hatte sie hohes Fieber. Ab und an wachte sie auf, nahm schemenhaft wahr, dass sie in einer einfachen Schilfhütte lag. Es war unerträglich heiß. Aber es kümmerte sich jemand um sie. Eine Frau pflegte sie, deren Gesicht sie nie zu sehen bekam. Ihr ganzer Körper war umwickelt mit zerrissenen Tüchern, dreckig, alt, alles hing an ihr herunter und sie roch. Wie eine Bettlerin. Aber eine, die man dazu verdammt hatte, so wie sie, denn ihre Bewegungen waren nicht wie die einfacher Frauen, sondern anmutig und ruhig, und ihre Stimme war sanft.
Aus irgendeinem Grund hatte sie Vertrauen zu der so widersprüchlichen Alten. Wenn sie sich aufrichtete, schien sie sogar recht groß zu sein, wenn sie ging, sah es fast schlaksig aus, denn sie schien unter all den Tüchern sehr schlank oder gar dünn zu sein, aber dennoch irgendwie von graziler Haltung. Auch wenn sie sonst ein recht ungepflegtes Äußeres hatte, ihre Hände waren stets mit sauberen Stoffbändern umwickelt. Das Einzige, was sie direkt von ihr sah, waren die dunklen fransigen Haare, die unter dem Kopftuch heraushingen, und die aus den Stoffbändern herausschauenden Fingerspitzen, die sie streichelten, die ihr kühle Tücher auflegten, die ihr heißen Tee mit frischen, meist bitteren Kräutern brachten und klares Wasser und Getreidebrei. Woher die Frau das nahm, sie wusste es nicht. Nur einmal sah sie ihre dunkelbraunen Augen, wie der scheue Blick einer Gazelle. Als Encheduanna-Kyr sich nach langer Zeit wieder erholt hatte und sie sich bei der Alten von Herzen bedanken wollte, hatte sie nichts, was sie ihr geben konnte, außer ihrem tiefen und aufrichtigen Dank. Das war das Mindeste, was sie tun konnte, doch die Frau war verschwunden. Spurlos. Sie hatte überall gefragt, im ganzen erbärmlichen Lager, in jeder wackeligen Schilfhütte. Keiner kannte sie, keiner hatte sie gesehen. Nur ein kleiner Junge, der sagte, das sei die alte Sho-oi . Von Ninive , hätte sie gesagt, das war sehr weit weg.
Aber Iah-Sku-La lebte! Innana , die große Göttin der Liebe und des Krieges, hatte ihr Flehen erhört. Der liebenswürdige Alte musste sich beim Gehen auf einen Stock stützen, aber der Kopf war klar, klarer
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