Das Vermächtnis der Eszter
dir einen Fall nennen … Einmal, während eines Festes, hat er mich um Geld gebeten, um eine größere Summe … Und ich habe zufällig erfahren, daß er diese Summe am nächsten Tag unangetastet einem meiner Beamten, der in Schwierigkeiten geraten war, zukommen ließ. Warte, das ist noch nicht alles. Natürlich ist es keine Heldentat, mit dem Geld anderer Leute den Menschenfreund zu spielen. Aber gleichzeitig brauchte Lajos selbst dringend Geld, es waren Wechsel fällig, wie soll ich sagen … ich meine, peinliche Wechsel. Die Summe, die er in alkoholisiertem Zustand ausgeliehen hatte und die er am nächsten Tag kühl und nüchtern einem anderen Menschen weitergab, hätte ihm helfen können. Verstehst du?«
»Nein«, sagte Laci ehrlich.
»Ich hingegen schon, glaube ich«, sagte Tibor und verstummte dann trotzig, wie es seine Gewohnheit war. Als bereute er seine Worte.
Nunu sagte noch: »Paßt auf, er kommt um Geld. Aber ihr werdet umsonst aufpassen. Tibor wird ihm wieder welches geben.«
»Nein, bestimmt nicht mehr«, sagte Tibor lachend und schüttelte den Kopf.
Nunu zuckte mit den Schultern: »Doch, natürlich. Wie letztes Mal. Irgend etwas. Noch einen Zwanziger. Man muß ihm geben.«
»Aber warum denn, Nunu?« fragte Laci höchst erstaunt und neidisch.
»Weil er der Stärkere ist«, sagte Nunu gleichgültig und ging in die Küche zurück.
Beim Umziehen vor dem Spiegel mußte ich mich festhalten; ich hatte eine Art Vision. Ich sah die Vergangenheit so deutlich, wie man die gegenwärtige Wirklichkeit nie sieht. Ich sah den Garten, diesen Garten, in dem wir jetzt Lajos erwarteten – wir stehen unter der großen Esche, zwanzig Jahre jünger, und unsere Herzen sind voller Verzweiflung und Zorn. Aufgebrachte Worte schwirren durch die Luft wie Hummeln im Herbst. Auch da ist es Herbst, gegen Ende September. Die dunstige Luft ist voller Düfte. Wir sind zwanzig Jahre jünger, wir, das heißt Verwandte, Freunde und auch halbwegs Fremde, und mitten unter uns steht Lajos wie der ertappte Dieb. Er steht ruhig, blinzelnd, und manchmal nimmt er seine Brille ab und putzt sie. Er steht allein inmitten des aufgeregten Kreises, so ruhig wie jemand, der weiß, daß er das Spiel verloren hat, daß alles aufgeflogen ist, daß ihm nichts anderes mehr übrigbleibt, als zu stehen und zu warten, während das Urteil über ihn gefällt wird. Dann ist Lajos aus dem Kreis plötzlich verschwunden. Wir leben weiter, ein mechanisches, wachspuppenhaftes Leben. Als existierten wir nur zum Schein: Unser wahres Leben ist der Kampf und der Zorn, der uns angesichts von Lajos erfüllt.
So sah ich ihn, inmitten des damaligen Kreises, des damaligen Gartens, und ich sah uns, wie wir alle mit der alten Heftigkeit zu leben beginnen. Ich zog mein lila Kleid an. Es war wie ein altes Kostüm, eins der Kostüme des Lebens. Ich spürte, daß ein Mensch mit all dem, was ihn ausmacht, mit der spezifischen Kraft und dem ihm eigenen Verhalten, bei seinen Gegenspielern eine besondere Form des Lebensgefühls hervorruft. Wir alle gehörten zu ihm, wir alle lebten im Bündnis gegen ihn, und jetzt, da er zu uns unterwegs war, lebten wir anders, aufregender, gefährlicher. Mit solchen Gefühlen stand ich im Zimmer vor dem Spiegel, im alten Kostüm. Lajos brachte die Zeit zurück, aber auch die zeitlose Lebensintensität. Ich wußte, daß er sich nicht verändert hatte. Ich wußte, daß Nunu recht behalten würde. Ich wußte, daß wir ihm gegenüber machtlos waren. Und gleichzeitig wußte ich, daß ich von der Wahrheit des Lebens, sei es mein Leben oder das der anderen, noch immer keine Ahnung hatte und daß ich diese Wahrheit nur durch Lajos erfahren konnte – ja, durch den verlogenen Lajos. Der Garten füllte sich mit Bekannten. Irgendwo hupte ein Auto. Mit einem Mal war ich erstaunlich ruhig; ich wußte, daß Lajos gekommen war, weil er nicht anders konnte, und daß wir ihn empfingen, weil wir nicht anders konnten, und daß das Ganze für ihn ebenso unbehaglich, unangenehm und unabwendbar war wie für uns.
9
Doch die Wirklichkeit, diese wunderlich eiskalte Dusche, weckte mich aus meiner Vision. Lajos war angekommen, und es begann der Tag, der Tag von Lajos’ Besuch, von dem Tibor, Laci und Endre bis zur Stunde ihres Todes reden würden, Dinge verwechselnd, Erinnerungen aufbauschend, Bilder beschwörend und löschend. Ich will die Geschichte des Tages wirklichkeitsgetreu erzählen. Es brauchte seine Zeit, bis ich den wahren Sinn dieses Besuchs verstand.
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