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Das Vermächtnis der Eszter

Das Vermächtnis der Eszter

Titel: Das Vermächtnis der Eszter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Er begann wie der Auftritt eines Wanderzirkus. Und er endete – nein, das Ende, den Abgang kann ich mit nichts vergleichen. Denn er hat ganz einfach geendet. Lajos ist weggegangen, der Tag, ein Lebensabschnitt war vorbei. Wir haben weitergelebt.
    Lajos kam mit einer ganzen Menagerie. Schon der Wagen, der vor dem Haus hielt, zog die Aufmerksamkeit der Stadtbewohner auf sich. Er war rot und außergewöhnlich groß, fast wie ein Bus. Aus dem Wagen, wie ich später hörte – denn ich hatte den Augenblick der Ankunft, den so mühsam erwarteten Augenblick, verpaßt, und ich muß aus Lacis unbeholfener und Tibors vorsichtig korrigierender Erzählung die Bruchstücke zusammensetzen –, aus dem Wagen stieg als erster ein unbekannter, seltsam gekleideter junger Mann, der einen Hund mit gelbem Fell und Löwenschnauze im Arm trug. Der Hund, anscheinend eine kostbare tibetanische Rasse, wirkte unwirsch und bissig. Dann stieg eine ältere, aber jugendlich gekleidete und geschminkte, mit einem Ledermantel angetane Frau aus, dann Éva und Gábor, und schließlich, vom Vordersitz neben dem Fahrer, Lajos. Die Wartenden waren von dieser Ankunft verwirrt, und niemand eilte den Gästen entgegen. Man stand reglos im Garten und starrte auf das rote Automobil.
    Lajos verhandelte mit dem Fahrer, betrat dann den Garten, blickte um sich, erkannte Tibor und sagte, ohne zu grüßen: »Tibor, gib mir doch rasch einen Zwanziger. Der Chauffeur muß Öl nachfüllen, und ich habe kein Kleingeld.«
    Und da er genau das sagte, was alle von ihm erwarteten, protestierte niemand, und niemand war empört. Sie standen wie verzaubert, genau dort, wo sie ihn zwanzig Jahre zuvor gesehen hatten, unter demselben Baum, in gleicher Beleuchtung. Und da er sie mit den gleichen Worten begrüßte, wie er sich verabschiedet hatte, fühlten sie, daß in alledem etwas Notwendiges war, und sie schwiegen. Tibor streckte ihm stumm die verlangte Banknote hin. Eine Weile standen sie noch da, wie die Darsteller in einem Stück ohne Worte. Lajos bezahlte den Fahrer, kam in den Garten zurück und stellte die Neuangekommenen vor. So fing es an.
    Später habe ich mich oft gefragt, ob in dem Ganzen etwas Inszeniertes, Theatralisches war. Ich glaube, ja, bloß war diese Theatralik unbewußt. Sonst könnte Lajos nicht funktionieren, er würde früher oder später überall hinausgeworfen, entlarvt als Schaumschläger, als Schmierenkomödiant, der seine Umgebung vielleicht eine Weile unterhält oder ärgert, von dem man aber schließlich genug hat und sich abwendet, weil alles nur Berechnung und Künstelei ist und entsprechend langweilig. Von Lajos aber wandte man sich nicht ab, denn seine kleinen Inszenierungen waren voller Überraschungen, die er nicht vorbereitet hatte und die auch er genoß, so daß er im Augenblick des Knalleffekts am liebsten gelacht, gestaunt und sich selbst Beifall geklatscht hätte. Lajos hatte oft einen Abschnitt aus Shakespeare zitiert, der so beginnt: »Die ganze Welt ist ein Theater.« In diesem Theater trat er auf, immer in der Hauptrolle und in zeitgenössischem Kostüm, aber ohne je den Text gepaukt zu haben. Jetzt, bei seiner Ankunft, spielte, inszenierte und rezitierte er mit sichtlichem Genuß. Die beiden Kinder zum Beispiel stellte er mit einer schwer zu definierenden, aber jedenfalls dramatischen Geste vor.
    Schon in seinen ersten Worten schwangen Klage und Anklage mit. »Hier, die Waisen«, so stellte er Tibor und Laci die beiden Kinder vor, die in der Zwischenzeit Erwachsene geworden waren: Gábor, ein dicklicher, träge blinzelnder, duckmäuserischer junger Mann, hatte Ingenieurwesen studiert, Éva war ganz die kleine Dame, sehr städtisch, sehr modisch sportlich gekleidet, zwei Fuchspelze um den Hals, ein bißchen hämisch, beleidigt und erwartungsvoll lächelnd. »Hier, die Waisen«, das schwang in Lajos’ Geste und Blick mit, als er Vilmas Kinder vorstellte, die zwar tatsächlich Waisen, oder besser: Halbwaisen, waren, die aber auch stärker schienen als das grausame Schicksal: Sie waren herangewachsen und in beruhigendem physischem Zustand aus der Zeit zu uns zurückgekehrt. Es ist schwer, das alles zu erklären. Wir standen, auch später noch, verlegen und gesenkten Blickes vor den Kindern. Lajos stellte sie die ganze Zeit zur Schau, von vorn und von der Seite, als hätte er da zerlumpte, von Gott und den Menschen verlassene Wesen auf der Straße aufgelesen und als müßte nun von uns jemand – Tibor oder Nunu oder auch ich – die

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