Das Vermächtnis der Eszter
Verantwortung für sie übernehmen. Diese Forderung sprach er nicht aus, aber vom ersten Augenblick an führte er Éva und Gábor mit diesem Unterton vor. Und seltsamerweise hatten wir alle das Gefühl, daß wir, die wir da im Garten standen, für diese zwei gepflegten, gutgekleideten und auch verdächtig reif und eingeweiht wirkenden jungen Menschen, die vom Mond in unser Leben gefallen waren, tatsächlich irgendwie verantwortlich waren – verantwortlich im praktischen Sinn des Wortes, so wie man sein Brot oder seine Gefühle mit jemandem teilen muß, der darauf angewiesen ist und auch ein Anrecht darauf hat. Die beiden Waisen standen ruhig und erwartungsvoll da, an Lajos’ Inszenierungen offensichtlich schon gewöhnt; sie schienen zu wissen, daß es vor diesen Darbietungen kein Entrinnen gab, daß man warten mußte, bis alles nach Programm abgelaufen war und der Applaus ertönte. Nach einer kleinen Kunstpause, die uns erlaubt hatte, wegen der »Waisen« ein schlechtes Gewissen zu bekommen, hüstelte Lajos nach alter Gewohnheit zweimal und begann rasch seine Zauberkunststücke.
Sie füllten den ganzen Vormittag. Er arbeitete fieberhaft; es war offensichtlich, daß er sein Allerbestes gab, mit dem Einsatz von Leib und Seele, echten Tränen und heißen Küssen, wobei er die einzelnen Nummern mit einem fabelhaften Erinnerungsvermögen vortrug. Alle waren geblendet. Sogar Nunu. In der ersten Stunde kamen wir überhaupt nicht zu Wort. Mit angehaltenem Atem verfolgten wir die Vorstellung. Nunu wurde auf beide Wangen geküßt, worauf aus Lajos’ Brieftasche der Brief eines Staatssekretärs zum Vorschein kam: Der hohe Beamte bestätigte Lajos, seinem lieben Freund, daß er den Brief, in welchem Lajos Nunus Ernennung zur Postmeisterin energisch betreibt, erhalten habe und sich bemühen wolle, dem Anliegen stattzugeben. Ich selbst habe das Schriftstück gesehen: offizielles Papier, Wasserzeichen, Stempel und in der oberen linken Ecke in erhabenen Lettern das Wort »Staatssekretär«. Der Brief war einwandfrei echt; Lajos hatte tatsächlich etwas für Nunu unternommen. Nur gerade die Tatsache blieb unerwähnt, daß Lajos diese Demarche fünfzehn Jahre zuvor versprochen hatte, daß Nunu auf die Siebzig zu ging, daß sie ihre postmeisterlichen Träume längst aufgegeben hatte, daß sie für eine solche Arbeit gar nicht mehr geeignet war, daß sie in ihrem Alter für einen so verantwortungsvollen Dienst nicht mehr angestellt werden konnte und also Lajos’ edle Tat zu spät kam, genau fünfzehn Jahre zu spät. Daran dachte jetzt niemand. Wir standen um Lajos und Nunu herum, mit glänzenden Augen, erleichtert und triumphierend. Tibor blickte stolz um sich, mit zufrieden blitzenden Brillengläsern, die zu sagen schienen: »Seht, wir haben uns getäuscht! Lajos hält doch Wort!« Laci lächelte verlegen, aber auch er war in diesem Augenblick ganz offensichtlich stolz auf Lajos. Nunu weinte. Sie war daheim, im Oberland, dreißig Jahre lang Hilfspostmeisterin gewesen, dreißig Jahre lang hatte sie vergeblich gehofft, eine feste Anstellung zu bekommen, und als ihre Hoffnungen mit der Zeit zunichte wurden, kam sie zu uns und hängte ihre Karrierewünsche an den Nagel. Jetzt las sie erschüttert und unter Tränen die Zeilen, in denen ihr Name genannt wurde. Der Staatssekretär versprach noch nichts Konkretes, er stellte einfach in Aussicht, daß er Nunus Anliegen wohlwollend in Erwägung ziehen und die »Möglichkeiten prüfen« wolle. Das Ganze hatte nicht mehr den geringsten Sinn.
Und doch weinte Nunu und sagte leise: »Ich danke dir, lieber Lajos. Es ist vielleicht zu spät. Aber ich bin sehr glücklich.«
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Lajos, »du wirst sehen, es ist noch nicht zu spät.«
Er sagte es so großartig, als wäre er nicht nur mit dem Staatssekretär auf Du und Du, sondern auch mit Gott persönlich, so daß man ihm alle Angelegenheiten, so etwa die des Alters und des Todes, ruhig überlassen konnte. Wir waren ergriffen.
Dann redeten alle durcheinander, Onkel Endre war inzwischen auch gekommen und stand ein wenig zurückhaltend und verlegen neben der Steinbank, als wäre er nicht ganz freiwillig da, sondern nur auf Lajos’ Aufforderung, in »offizieller Eigenschaft«. Lajos war jetzt in voller Fahrt. Er schob Leute aufeinander zu und stellte Gruppenbilder zusammen, er improvisierte kleine Szenen, Wiedersehensszenen und freudig-gerührte Versöhnungsszenen, alles mit halben Worten, während der wahre Sinn
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