Das Vermächtnis der Eszter
das Traurige daran – auch nicht besonders zielbewußt. Sein Blick war klar, grau und unstet, wie damals, als ich ihn zuletzt gesehen hatte. Er rauchte seine Zigarette aus einer langen Spitze – seine Hand mit den dicken Adern war merkwürdig faltig und zitterte dauernd –, und auch er betrachtete mich aufmerksam und so sachlich und ruhig, als hätte er endlich eingesehen, daß jegliche Effekthascherei vergeblich und sinnlos war, daß ich seine Tricks kannte und daß er sagen mochte, was er wollte, daß er sich aber letztlich verantworten mußte, mit Worten oder ohne Worte, endlich aber mit der Wahrheit …
Selbstverständlich begann er mit einer Lüge: »Ich will alles in Ordnung bringen«, wiederholte er mechanisch.
»Was willst du in Ordnung bringen?«
Ich blickte ihm in die Augen und mußte lachen. Das kann doch nicht dein Ernst sein, dachte ich. Nach einer gewissen Zeit kann man zwischen Menschen nichts mehr »in Ordnung bringen«. Diese hoffnungslose Wahrheit ging mir in dem Augenblick auf, als wir dort auf der Steinbank saßen. Man lebt, man flickt und verbessert und baut sein Leben und macht es manchmal auch kaputt; nach einer Zeit merkt man aber, daß es, so wie es aus Fehlern und Zufällen zusammengesetzt ist, nicht mehr verändert werden kann. Lajos konnte hier nichts mehr ausrichten. Wenn jemand aus der Vergangenheit auftaucht und mit gefühlvoller Stimme sagt, er wolle »alles« in Ordnung bringen, kann man ihn nur auslachen und bemitleiden. Die Zeit hat schon alles »erledigt«, auf ihre eigene und einzig mögliche Art.
Ich sagte: »Vergiß es, Lajos. Wir freuen uns natürlich alle, dich zu sehen … dich und die Kinder. Wir kennen deine Pläne nicht, aber wir freuen uns, dich wieder einmal zu sehen. Von der Vergangenheit wollen wir nicht sprechen. Du bist niemandem etwas schuldig.«
Kaum hatte ich das ausgesprochen, wurde mir bewußt, daß auch ich mich vom Augenblick hinreißen ließ, daß auch ich »erste Worte« sprach, die im Grunde verlogen waren. Nur im Gefühlsüberschwang, in hochfliegender Verwirrung konnte man behaupten, die Vergangenheit sei nicht mehr von Bedeutung und Lajos sei »niemandem etwas schuldig«. Wir beide spürten den falschen Klang, und wir starrten gesenkten Blickes auf die Kiesel. Wir hatten einen zu hohen Ton angeschlagen, zu hoch und verlogen vibrierend.
Plötzlich ertappte ich mich dabei, daß ich Lajos angriff, nicht gerade folgerichtig, aber wenigstens mit echten Worten und mit einer Feindseligkeit, die ich nicht hätte unterdrücken können: »Wahrscheinlich bist du nicht nur deswegen gekommen«, sagte ich leise, denn ich fürchtete, daß man uns auf der Veranda hören würde; manchmal verstummte das Gespräch dort auf eine Art, als horchten sie herüber.
»Nein«, sagte er hustend. »Ich bin nicht nur deswegen gekommen. Eszter, ich muß noch einmal im Leben mit dir reden.«
»Ich habe nichts mehr«, sagte ich unwillkürlich kühn.
»Ich brauche nichts mehr«, sagte er und schien nicht beleidigt. »Jetzt will ich dir etwas geben. Schau, es sind zwanzig Jahre vergangen, zwanzig Jahre! So viele zwanzig Jahre haben wir im Leben nicht mehr; vielleicht sind es die letzten. In zwanzig Jahren wird alles reiner, durchsichtiger, verständlicher. Ich weiß jetzt, was geschehen ist, und ich weiß auch, warum es geschehen ist.«
»Wie scheußlich das ist«, sagte ich heiser. »Scheußlich und lächerlich. Wir sitzen hier auf der Bank, wir, die einander etwas bedeutet haben, und reden von der Zukunft. Nein, Lajos, es gibt keine Zukunft, ich meine, nicht für uns zwei. Kommen wir auf den Boden zurück. Es gibt etwas, das du nicht kennst, eine Art bescheidene Würde, die Würde des Daseins. Es reicht jetzt mit den Demütigungen. Daß wir von der Vergangenheit sprechen, ist schon schlimm genug. Was willst du? Was hast du dir ausgedacht? Wer sind diese fremden Leute? Eines Tages packst du deine Sachen, sammelst Menschen und Tiere ein und erscheinst mit Trara und so großen Worten, als spräche der Herr vom Himmel herab … Hier aber kennt man dich bereits. Wir kennen dich, mein Freund.«
Ich sprach ruhig, lächerlich feierlich, und bei jedem Wort so bestimmt, als hätte ich mir das alles im voraus überlegt. In Wirklichkeit hatte ich mir natürlich gar nichts überlegt. Ich glaubte keine Sekunde lang, daß hier noch etwas »in Ordnung kommen« konnte, und ich wollte Lajos weder um den Hals fallen noch mit ihm streiten. Was wollte ich eigentlich? Ich wäre gern
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