Das Vermächtnis der Feuerelfen
anmerken zu lassen, wie enttäuscht sie war. Gerüchte hatte sie wahrlich schon mehr als genug gehört. Neue und alte, wobei sich irgendwie
immer alles zu wiederholen schien.Aber die Nacht war noch lang. Sie hatte viel Zeit und wollte die freundliche Frau nicht beleidigen.
»Nun, das meiste kennst du sicher schon«, räumte die Frau ein. »Sie sagen, der König von Tamoyen hätte die Hohepriesterin damals entführen lassen, um mit ihr die gestohlene Wächterstatue aus dem Celossos-Altar freizupressen, deren Magie viele hundert Winter das Tor zur Anderwelt verschloss. Viele hier glauben, dass es deshalb Krieg gegeben hat.«
»Das ist kein Gerücht.« Finearfins Gesicht nahm einen harten Ausdruck an. »Es ist die Wahrheit. Eine Wahrheit, die Hunderte Elfen und Tausende Tamoyer das Leben kostete und dem Zweistromland den ewigen Winter gebracht hat. Das Schlimmste aber ist, dass die Entführung euch nicht geholfen hat. Die Statue ist nicht zurückgekehrt. Alles ist nur noch schlimmer geworden.«
»Nicht wenige in Tamoyen sehen es wie du.« Die Frau nickte bedächtig. »Es gibt kaum jemanden in diesem Land, der nicht einen Angehörigen im Krieg gegen die Elfen verloren hat. Man munkelt, dass der alte König keines natürlichen Todes starb. Angeblich ist er von seinen Widersachern heimtückisch vergiftet worden, um den Thron für seinen Sohn frei zu machen, der mit den Elfen des Zweistromlandes Frieden schließen wollte, und …«
»Was er dann ja auch getan hat.« Finearfin hatte keine Lust, sich mit der Frau über die Verhältnisse im tamoyischen Königshaus zu unterhalten. »Im Grunde kümmert es mich herzlich wenig, wer in Tamoyen regiert«, sagte sie ohne eine Spur von Bedauern. »Mein Volk verliert seine Heimat und ich trage eine Mitschuld daran. Das ist es, was mich mehr als alles andere bewegt. Ich muss wissen, was aus der Hohepriesterin und ihrem Kind geworden ist.«
»Es heißt, sie hätten sie auf ein Schiff gebracht, das mit unbekanntem Ziel ausgelaufen ist«, erklärte die Frau.
»Auch das habe ich schon gehört.« Finearfin nickte ernst. »Aber das Ziel war nicht unbekannt. Nach allem, was ich erfahren habe, sollte die Hohepriesterin zur Feuerinsel weit draußen im Ozean der Stürme gebracht werden. Dorthin wurden vor mehr als zweihundert Wintern ihre Vorgängerin, die Elfenpriesterin Nimeye, und ihr Gefolge nach einem missglückten Attentat auf den Elfenkönig verbannt. In ihrem Auftrag, so habe ich erfahren, wurde die Wächterstatue geraubt, mit dem Ziel, sie gegen die Hohepriesterin auszutauschen. Indem Nimeye Tamoyen der Anderwelt preisgab, hoffte sie, seinen König dazu zu zwingen, ihr die Hohepriesterin zu bringen.«
»So eine Schande«, rief die Frau empört aus, verstummte aber sogleich wieder, weil einige der Gäste neugierig zu ihr herüberblickten, und fuhr im Flüsterton fort: »Aber warum so umständlich? Warum haben die abtrünnigen Elfen die Hohepriesterin nicht selbst entführt?«
»Weil sie mit einem Bann belegt sind und die Feuerinsel nicht verlassen können. Sie würden sterben, noch ehe sie das Festland erreichen. Und sie konnten auch nicht ihre Handlanger schicken, da der Bann des Elfenkönigs jeden, der mit den Elfen der Feuerinsel im Bunde ist, daran hindert, das Zweistromland zu betreten.«
»Ein kluger Schachzug.« Die Frau nickte, schien aber noch Fragen zu haben. »Wenn du das alles schon weißt, verstehe ich nicht, wonach du noch suchst.«
»Ich weiß, was geschehen sollte, nicht aber, was wirklich geschah«, setzte Finearfin zu einer Erklärung an. »Wenn meine Informationen stimmen, hat die Hohepriesterin die Feuerinsel nie erreicht, denn die Statue befindet sich immer noch dort.«
»Es tut mir leid, aber nach allem, was ich weiß, ist das Schiff, das sie fortbringen sollte, in einem Sturm gesunken«, sagte die Frau leise. »Niemand hat das Unglück überlebt.«
»Das ist nicht wahr. Die Hohepriesterin lebt!« Finearfin sagte das in einem Ton, als genüge allein der Glaube daran, um aus
den Worten Wirklichkeit werden zu lassen. »Wäre sie damals gestorben, wäre das Zweistromland längst unter einer dicken Eisschicht begraben. Ihre Kraft ist schwach und schwindet mit jedem Winter ein wenig mehr, aber sie ist noch zu spüren, denn sie hält die Eisdämonen aus dem Norden nach wie vor davon ab, gänzlich in meine Heimat einzufallen. Noch gibt es Hoffnung.«
»Und diese Hoffnung führt dich hierher.« Die Bedienung nickte bedächtig. »Aber was willst du hier
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