Das Vermächtnis der Feuerelfen
sollte, aber das Schicksal schien andere Pläne mit ihr zu haben.
Ihre Hand wanderte suchend zum Gürtel und fand ihr Messer dort nass, aber unversehrt in der ledernen Scheide vor. Es bei
sich zu wissen, war tröstlich. So konnte sie ihrem Elend selbst ein Ende bereiten, wenn es keine Hoffnung mehr geben sollte.
Wieder griff die Erschöpfung nach ihr, und obwohl sie sich auch diesmal dagegen wehrte, gelang es ihr nicht, die Augen offen zu halten.
Sie erwachte, weil etwas an ihr zupfte. Es war ein fernes und unwirkliches Gefühl, das die Dunkelheit vertrieb und ihre wirren Träume in nichts auflöste. Endlose Herzschläge verstrichen, ehe sie die Kraft fand, die salzverkrusteten Lider zu öffnen, und noch länger dauerte es, bis sich ihr trüber Blick klärte. Sie konnte nicht sagen, wie lange sie geschlafen hatte, aber wichtiger als das war die Gewissheit, dass sie immer noch lebte.
»Na endlich.« Da war es wieder: das Zupfen und Picken wie von einem Schnabel, der sich an ihren Gewändern zu schaffen machte. »Ich dachte schon, du wachst gar nicht mehr auf.«
Finearfin hob blinzelnd den Kopf und blickte in das schmutzig-graue Gesicht einer Raubmöwe, die vor ihr auf der Luke stand und ungeduldig hin und her lief. »Sa... Sa...« Sie wollte etwas sagen, aber ihre Lippen waren so trocken, dass sie aufsprangen und zu bluten begannen.
»Nicht reden, jetzt nicht«, hörte sie die Möwe sagen. »Für überschwängliche Dankesbekundungen ist es noch etwas früh. Ich habe dich gefunden. Ob ich dich von hier fortbringen kann, muss sich erst erweisen.«
»Saphrax!« Niemals hätte Finearfin es sich träumen lassen, dass sie sich einmal so über den Anblick einer Anderweltkreatur freuen würde. »Du... du bist da.«
»Ja, ich bin da«, schnatterte Saphrax ungeduldig. »Und wenn du dich ein wenig zusammenreißt, sind wir auch bald in Sicherheit.«
Sicherheit. Was für ein Wort. Finearfin hustete und fragte: »Was muss ich tun?«
»Kannst du dich auf alle viere hocken?«
»Ich versuche es.« Finearfin nickte. Ihre Arme und Beine zitterten, das Brett schwankte bedrohlich, und eine Flut von Wasser schwappte darüber, als sie sich mühsam aufrichtete.
»He, Vorsicht!« Saphrax flog erschrocken auf. »Wenn du ins Wasser fällst, ist es aus.«
»Es... es geht schon.« Finearfin keuchte. Die Haare hingen ihr nass und strähnig ins Gesicht und ihre Kleidung war schwer von Wasser. Mit letzter Kraft gelang es ihr, auf alle viere hochzukommen und das Gleichgewicht zu halten. Saphrax landete vor ihr und stellte sich so, dass sein Rücken unter dem Bauch der Elfe war. »Wenn ich sage ›Festhalten‹, packst du so fest zu, wie du kannst - verstanden?«
»Verstanden.« Schweiß perlte auf Finearfins Stirn, ihr Atem ging stoßweise. »Beeil dich, ich kann nicht mehr.«
»Also gut. Dann jetzt: Festhalten!«
Finearfin packte zu, ohne nachzudenken, und wie durch ein Wunder ging der Griff nicht ins Leere. Wo zuvor nur Luft gewesen war, umklammerten ihre Arme plötzlich den Hals des größten Vogels, den sie jemals gesehen hatte. Fast hätte sie vor Schreck aufgeschrien, aber da breitete der Vogel schon seine Schwingen aus, stieß sich mit machtvollen Flügelschlägen von der plötzlich winzig erscheinenden Tür unter seinen Krallen ab und erhob sich in die Lüfte.
Finearfin schloss die Augen und hielt sich an Saphrax fest. Was sie erlebte, grenzte an ein Wunder. Sie war gerettet.
EIN REICH AUS FEUER UND FINSTERNIS
D er Wind blies Finearfin ins Gesicht und kühlte ihre sonnenverbrannte Haut. Ihr Haar trocknete im Wind und die Wärme von Saphrax’ Gefieder sorgte dafür, dass sie trotz ihrer nassen Kleidung kaum fror.
Sie saß rittlings auf Saphrax’ breitem Rücken und genoss die sanften Auf- und Abbewegungen der gewaltigen Schwingen, mit denen der große Vogel sie zur Feuerinsel trug. Der Himmel war von einem strahlenden Blau und so wolkenlos, als hätte es nie einen Wirbelsturm gegeben. Unter ihnen glänzten die Wogen des Ozeans wie geschmolzenes Silber im Sonnenlicht. Der Anblick weckte in Finearfin eine tiefe Trauer über den Verlust der Gefährten, aber auch das wunderbare Gefühl, dem Tod noch einmal entronnen zu sein. Sie spürte eine tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Wechselwesen, das sie um ein Haar eigenhändig getötet hätte, und nahm sich vor, sich bei Saphrax dafür zu entschuldigen, sobald sie gelandet waren.
Bald überflogen sie das Brennende Wasser, wo das heiße Blut der Erde vom Grund des Ozeans
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