Das Vermächtnis der Feuerelfen
mein eigen Fleisch und Blut mich schändlich hinterging...« Nimeye stockte, als könne sie das ungeheuerliche Unrecht, das man ihr angetan hatte, selbst jetzt nur schwer begreifen.
»Aber nun bist du hier«, sagte sie in einem Ton, als sei dies die Erfüllung all ihres Sehnens. »Du hast den Weg hierher gefunden, wie ich es mir immer erhofft habe, um die Fehler deiner Mutter wiedergutzumachen und jenen, die in den langen Wintern der Verbannung nicht verzweifelt sind, die Freiheit zu bringen.« Nimeye verstummte und schaute Caiwen an, als warte sie auf eine Antwort. Aber Caiwen schwieg.
Sie hatte sich geschworen, niemals zu verraten, woran ihre Mutter geglaubt hatte und wofür sie gestorben war, aber sie spürte, dass das, was sie bisher für ihre feste Überzeugung gehalten hatte, unter Nimeyes Worten ins Wanken geriet. Die Worte ihrer Großmutter setzten alles in ein anderes Licht. Aus Schwarz und Weiß wurde Grau und zum ersten Mal in ihrem Leben fühlte sich Caiwen außer Stande, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden.
»Du... du lügst!«, presste sie in hilflosem Zorn hervor. »Ich will nichts mehr hören!«
»Tut mir leid, aber ich fürchte, das wirst du müssen.« Ihre Großmutter ergriff sie am Arm. »Du wirst die Wahrheit erkennen und das Unrecht, das man uns angetan hat, wiedergutmachen. Und nun folge mir in meine Höhle. Dort werde ich dir zeigen, was damals wirklich geschah...«
»... zu den anderen.« Finearfin hatte keine Ahnung, von wem Saphrax sprach. Alle, die mit ihr an Bord des Fischerboots gewesen waren, waren tot. Sie hatte gesehen, wie das Wasser sie verschlang, und nach dem Sturm keine Spur von ihnen entdecken können.
Wer also waren diese anderen?
Sie fragte Saphrax danach, erhielt aber keine Antwort. Das Wechselwesen führte sie über das Plateau zu einem Hang mit gefährlich losem Geröll, an dessen Flanke sich ein schmaler Pfad den Berg hinabschlängelte. Er war nicht steil und nicht besonders schwer zu begehen, dennoch kostete es Finearfin ungeheure Kraft, Saphrax zu folgen. Durst quälte sie. Immer öfter musste sie eine Pause einlegen und immer mehr Willensstärke aufbringen, um weiterzugehen. Jeder Schritt fiel ihr schwerer als der vorangegangene, und es dauerte nicht lange, da wünschte sie sich nichts sehnlicher, als einfach an Ort und Stelle liegen zu bleiben und zu schlafen.
»He, nicht schlafen.« Saphrax stupste sie ungeduldig mit der kühlen Schnauze an. »Es ist nicht mehr weit. Wir sind gleich da.«
... nicht mehr weit... gleich da... Nur bruchstückhaft erreichten Saphrax’ Worte Finearfins Bewusstsein. Es gelang ihr, sich aufzuraffen und noch ein paar Schritte vorwärtszutaumeln, dann knickten die Beine unter ihr ein und ihr wurde schwarz vor Augen.
Sie träumte vom Zweistromland.
Sie lag im Sonnenschein auf einer blühenden Sommerwiese. Vögel sangen und ringsumher rauschten die Silberpappeln leise im Wind. Über ihr wölbte sich ein strahlend blauer Himmel. Die Luft war erfüllt vom Duft Hunderter Blumen, während sich ein munteres Bächlein mit fröhlichem Plätschern seinen Weg durch das satte Wiesengrün bahnte.
Durst!
Das Bild verblasste und wich einem anderen.
Sie kniete am Bach und tauchte die Hände in das klare Felsquellwasser. Eine schillernde blaue Libelle kam angeflogen und setzte sich auf ihren Handrücken, aber Finearfin hatte keine Augen für die Schönheit des Insekts. Sie musste trinken ...
Mit beiden Händen schöpfte sie sich Wasser ins Gesicht. Mehr Wasser! Mehr! Sie schöpfte und lachte dabei und schöpfte erneut. Mehr Wasser! Sie konnte nicht genug bekommen. Dann war das Wasser plötzlich fort. Ihre Hände waren leer. Das Flussbett lag ausgetrocknet vor ihr.
Nein! Außer sich vor Wut, ballte Finearfin die Fäuste. Sie wollte in das Flussbett schlagen, aber die Zweige der Trauerweiden, die am Bach standen, wurden jäh zu Händen, die nach ihr griffen und ihre Arme festhielten. »Lasst mich los!« Finearfin gebärdete sich wie wild, schlug um sich, trat, kratzte und biss, aber die Weiden umklammerten sie mit eiserner Kraft ...
»Tu doch was. Sie wird uns noch alle verraten.«
Eine Stimme schwebte ihr zu, aber sie war noch zu sehr in dem Traum gefangen, um ihn von der Wirklichkeit unterscheiden zu können.
»Entschuldige!« Etwas traf hart ihre Wange und jagte ihr einen beißenden Schmerz durch den Körper. Das Bild des Baches und der Weiden verschwand. Statt in den blauen Sommerhimmel blickte sie nun in einheitliches Nebelgrau. Statt
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