Das Vermächtnis der Feuerelfen
und versuchte, nicht hinunterzusehen. Die feurige Tiefe und das unheilvolle Grollen, das immer wieder daraus emporstieg und den Fels erbeben ließ, machten ihr Angst. Ihre Hände tasteten Halt suchend an der Wand entlang. Das Gefühl des porösen Gesteins unter den Fingern vermittelte ihr Sicherheit, auch wenn sie wusste, dass diese trügerisch war.
»Weitergehen!« Eine der Wachen versetzte ihr einen Stoß, und sie bemerkte, dass sie stehen geblieben war. Zögernd setzte sie sich wieder in Bewegung. Ein warmer Luftzug aus der Tiefe trug ihr den Geruch von Schwefel zu. Für den Bruchteil eines Augenblicks glaubte sie, wieder in Armides Hütte zu sein, wo die alte Heilerin aus Sulfur, wie sie den Schwefel nannte, Heilmittel gegen Ekzeme, Husten und Schmerzen hergestellt hatte. Dann holte die Wirklichkeit sie wieder ein.
»Nun, wie gefällt dir mein Reich?« Nimeye hatte auf sie gewartet und deutete mit weit ausholender Geste über den Schlund, die Wachen hielten sich diskret im Hintergrund. Caiwen schwieg, aber Nimeye schien auch keine Antwort zu erwarten. »Ist es nicht wunderbar, auf Fackeln und wärmendes Feuer verzichten zu können, weil die Glut da unten Wärme und Licht im Überfluss für uns bereithält?« Sie machte eine bedeutsame Pause und fuhr fort: »Und ist es nicht ein wahrlich verlockender Gedanke, Hunderte von Nächten im Leib eines Vulkans zu verbringen, der die Höhle deiner Lagerstatt binnen eines Wimpernschlags mit seinem glutheißen Blut füllen kann?« Sie schaute Caiwen von der Seite an und fuhr in gespieltem Erstaunen fort: »Sehe ich da etwa
Abscheu in deinem Gesicht? Gefällt dir mein Reich nicht? Mein wunderbar feuriges Reich, das deine Mutter mir geschenkt hat? Ist es dir hier zu heiß? Zu gefährlich? Nun, dann wirst du dich sicher nicht wundern, dass es für viele meiner Getreuen ein tröstlicher Gedanke ist, ihrem erbärmlichen Dasein jederzeit ein schnelles Ende bereiten zu können, indem sie auf diesem Pfad einen falschen Schritt tun.« Sie schaute Caiwen scharf an und senkte die Stimme, als sie, erfüllt von Trauer, fortfuhr: »Viele von ihnen haben diesen Weg gewählt, seit deine Mutter und der Elfenkönig uns hierher verbannten. Sie hatten den Mut verloren und die Hoffnung auf Barmherzigkeit aufgegeben und sahen nur noch einen Ausweg...« Sie seufzte. »Kannst du dir vorstellen, wie viel Kummer und Verzweiflung dazu nötig ist? Wie viel Leid sie haben erdulden müssen? Welch grauenhaften Schmerz sie in ihren Herzen getragen haben? Kannst du dir das vorstellen?«
Caiwen starrte in die Tiefe.
»Du sagst nichts?« Nimeye legte die Hand sanft unter ihr Kinn und schüttelte den Kopf: »Was haben sie dir für Lügen erzählt? Welchen Hass haben sie in dein Herz gepflanzt, dass du es vor dem grausamen Schicksal verschließt, das uns an diesen Ort fesselt?« Sie verstummte, aber Caiwen schwieg beharrlich weiter. Sie ahnte, dass sie in dem Augenblick verloren haben würde, da sie den Mund öffnete, denn sie war nicht stark genug, um sich den Worten ihrer Großmutter in einem offenen Schlagabtausch zu widersetzen. Was immer sie auch vorbrachte, Nimeye war gewiss darauf vorbereitet und würde eine Antwort haben, die sie und ihre Getreuen in einem guten Licht erscheinen ließ.
»Ist es dir wirklich gleichgültig, was hier geschieht? Oder tust du nur so?« Nimeye drehte die Hand so, dass Caiwen sie ansehen musste. »Du bist deiner Mutter sehr ähnlich, weißt du das? Aber ich hoffe sehr, dass du im Gegensatz zu ihr wenigstens eine Spur von Mitleid in dir trägst. Ein Gefühl, das deine Mutter nicht kannte. Sie war hartherzig. Oh ja, das war sie, und stark, wenn es
darum ging, ihren Willen durchzusetzen. Schon als Kind wusste sie genau, was sie wollte. Und sie fand immer einen Weg, es zu bekommen. Aber das reichte ihr nicht. Sie wollte mehr. Sie wollte alles. Es genügte ihr nicht, die Tochter der Hohepriesterin zu sein und zu warten, bis ich meinen Platz freiwillig für sie räumte. Sie wollte herrschen, sobald sie alt genug dazu war. Und dafür war ihr jedes Mittel recht.
Dafür hat sie den König umgarnt und mich mittels Verrat in die Verbannung geschickt. Sie hatte das Ganze von langer Hand vorbereitet, indem sie in meinem Namen Getreue für den Sturz des Königs zusammensuchte und Botschaften fälschte, die meine angebliche Schuld beweisen sollten. Ich habe ihr vertraut und von alledem nichts geahnt. Als ich die Falle erkannte, war es zu spät. Ich konnte mich nicht einmal wehren, als
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