Das Vermächtnis der Feuerelfen
Selbstsicherheit war ungebrochen, als sie sich ihrer Tochter zuneigte und fragte: »Warum? Warum gerade jetzt?«
»Zweihundert Winter sind eine lange Zeit«, erwiderte die junge Elfe von oben herab. »Die Gelegenheit war günstig.«
»Ich wusste immer, dass dir eine schwarze Seele innewohnt«, zischte Nimeye ihrer Tochter zu. »Aber so leicht kommst du mir nicht davon. Diesen schändlichen Verrat wirst du mir büßen. Ich werde mir zurückholen, was du mir genommen hast...«
»... sofern der König dich am Leben lässt.« Elethiriel lächelte siegesgewiss. »Deine Getreuen werden gerade verhaftet. Schon morgen wird man euch den Prozess machen. Und dann...« Sie gab den Kriegern das Zeichen, Nimeye abzuführen. Mit unbewegter Miene schaute sie zu, wie ihre Mutter abgeführt wurde, dann strich sie über die kostbaren Decken auf dem Bett und sagte wie zu sich selbst: »... dann werde ich über das Zweistromland herrschen.«
Das Bild verblasste und Caiwens Bewusstsein kehrte in die Höhle auf der Feuerinsel zurück.
»Nun?« Nimeye schaute sie aufmerksam an.
Deine Mutter ist die wahre Verräterin ...
»Du lügst.« Caiwen schüttelte den Kopf, um die Stimme zu vertreiben, die ihr zuflüsterte, dass die Vision ihr die Wahrheit gezeigt hatte.
Nimeye wollte den Elfen nie etwas Böses ...
»Und doch war es so.« Nimeye schaute Caiwen tief in die Augen. Sie schien zu spüren, dass der Widerstand ihrer Enkelin bröckelte, und verstärkte den Druck noch etwas: »Ich war ihr im Weg und musste weichen. Dafür war ihr jedes Mittel recht.«
Nimeye ist unschuldig , wisperte es in Caiwens Gedanken. Unschuldig... unschuldig... Du musst sie befreien, um das Unrecht wiedergutzumachen, das deine Mutter ihr angetan hat. Du kannst ihr vertrauen.
Das Zweistromland braucht sie. Sie ist stark und mächtig, sie allein kann die Eisdämonen zurückdrängen. Sie wird die Schlangenkriegerin zurückbringen und die Anderweltwesen aus Tamoyen vertreiben.
»Aber Finearfin hat mir etwas ganz anderes erzählt.« Caiwen schlug die Hände vors Gesicht.
Finearfin hat gelogen... gelogen.
»Nein!« Caiwen keuchte auf. »Lügen, das sind Lügen. Du lügst... du... du...!« Sie wollte aufspringen, um der Stimme zu entkommen, die ihr den Willen nahm. Aber Nimeye hielt sie zurück. »Manchmal ist die Wahrheit nur schwer zu ertragen«, sagte sie verständnisvoll. »Und nicht immer ist sie das, was wir uns wünschen. Glaub mir, es schmerzt mich, das Bild zu zerstören, das du dir von deiner Mutter gemacht hast. Es wäre angenehmer für dich, sie als Heldin zu sehen, und nicht als Verräterin. Aber es musste sein.« Sie reichte Caiwen den Weinkelch und sagte liebevoll: »Hier, trink noch einen Schluck Wein, Liebes. Danach geht es dir besser.«
Caiwen nahm den Kelch und setzte ihn gehorsam an die Lippen. Sie hatte Durst und nahm einen großen Schluck …
Beriskraut! Zu spät erkannte sie den sonderbaren Geruch des Weins. Zu spät die Falle, die Nimeye ihr gestellt hatte.
»Du willst mich...?« Weiter kam sie nicht. Der gläserne Kelch entglitt ihrer Hand und zersprang in tausend Stücke, während das Bild der lächelnden Nimeye vor ihren Augen verschwamm und einem dumpfen Nebel wich, der alle Geräusche verschluckte und ihren Geist einhüllte, als würde sie in den Wolken schweben.
Sie fühlte sich leicht und frei. Alles war richtig, alles war gut. Caiwen lachte. Selten hatte sie sich so glücklich gefühlt.
Nimeye ist unschuldig... Du musst ihr helfen... Sie will nichts Böses... Sie ist deine Freundin... Du bist Fleisch von ihrem Fleisch ...
Stimmen begleiteten sie auf ihrem Weg durch die Wolken und diesmal störte sie sich nicht daran. Die Stimmen waren ihre Freunde. Je länger sie ihnen lauschte, desto mehr wuchs in ihr
die Überzeugung, dass sie recht hatten . Wie hatte sie nur glauben können, dass Nimeye eine herrschsüchtige Frau war, die das Zweistromland zerstören wollte? Wie hatte sie den Worten einer Geistererscheinung mehr Glauben schenken können als denen ihrer eigenen Großmutter. Finearfin glaubte, die Wahrheit zu kennen, dabei war auch sie nur den Lügen aufgesessen, die ihre Mutter einst verbreitet hatte, um an die Macht zu gelangen. Es wurde Zeit, das Unrecht wiedergutzumachen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Es wurde Zeit, den Bann zu lösen.
Die Nacht kam schnell auf der Feuerinsel. Ohne Dämmerung erlosch das Sonnenlicht und die Flammen des brennenden Wassers tauchten die Rauchwolken in ein unheimliches
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