Das Vermächtnis der Feuerelfen
gerade um ihr Leben kämpften. Angesichts ihrer Not erschien es ihr nicht richtig, dass ihre Eltern so selbstverständlich über das Strandgut sprachen, als würden sie die vielen Toten, die jedes Schiffsunglück forderte, nicht kümmern. »Warum schreibt ihr dem König Tamoyens nicht einen Brief und bittet ihn, die Sachen rechtzeitig vor dem nächsten Sturm auf die Reise zu schicken?« Kaum dass sie es ausgesprochen hatte, tat es Caiwen schon leid. Schließlich konnten ihre Eltern nichts für das Leben, das sie führen mussten. Andererseits waren die Worte auch ein Spiegel der Schuld und Scham, die Caiwen an diesem Abend nicht zum ersten Mal fühlte, weil sie vom Tod Unschuldiger profitierte. Mit jedem Winter, den sie älter wurde, lastete dieses Wissen schwerer auf ihrer Seele und ließ sie ahnen, dass sie sich auf Dauer nicht mit diesem Dasein würde abfinden können.
»Caiwen!« Verrina legte den Mantel aus der Hand und schüttelte tadelnd den Kopf. »Wie kannst du nur so etwas Dummes sagen? Du weißt sehr wohl, dass das unmöglich ist. Der König von Tamoyen hat ein Kopfgeld auf uns ausgesetzt. Unsere Vorfahren konnten nur deshalb überleben, weil sie hier eine sichere Zuflucht fanden.«
»Eine Zuflucht?« Caiwen drehte sich um und schaute ihre Mutter an. »Wohl eher ein Gefängnis.« Nie zuvor hatte sie es gewagt, diesen Gedanken offen auszusprechen, aber die Sorge um Heylon und das Rätsel um ihre tote Schwester hatten einen Großteil ihrer Selbstbeherrschung aufgezehrt und die Worte kamen ihr wie von selbst über die Lippen.
»Aber Kind!« Verrina warf Lenval einen Hilfe suchenden Blick zu. Sie wirkte bestürzt, ging aber nicht darauf ein, weil sie es gewohnt war, dass ihr Mann in solchen Situationen die Führung übernahm.
Lenval ließ sich mit der Antwort Zeit. Er galt als ruhig und besonnen. Nie hatte Caiwen erlebt, dass er laut wurde oder aufbrauste, so wie Heylons Vater es häufig tat. Dennoch mangelte es ihm nicht an Durchsetzungsvermögen. Sein Wort war Gesetz. Hatte er einmal einen Entschluss gefällt, hatte die Familie sich zu fügen. Darin unterschied er sich kaum von den anderen Männern der Insel.
Wie immer, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hatte, nahm er zunächst einen tiefen Zug aus seiner Pfeife, ehe er sich an Caiwen wandte. »Ein Gefängnis«, sagte er gedehnt und ohne Vorwurf in der Stimme. »Ist es das, was du siehst, wenn du hinausgehst?«
»Ich sehe einen Felsen von dreitausend Schritt Länge und tausend Schritt Breite, den ich nur verlassen kann, wenn ich sterbe«, erwiderte Caiwen mit fester Stimme. »Es ist viel Platz, aber es ändert nichts daran, dass wir hier gefangen sind.«
»Es ist unsere Heimat«, hielt Lenval ihr entgegen. »Hier sind wir frei.«
»Frei?« Caiwen lachte auf. »Frei sind hier nur die Felstölpel. Sie können das Riff verlassen - wir nicht.«
»Weil ihnen da draußen keine Gefahr droht.« Ihr Vater sprach so gelassen, dass Caiwen der Verdacht kam, er habe sich auf das Gespräch vorbereitet. Vielleicht weil er es einst selbst mit seinem
Vater geführt hatte. Vielleicht weil es etwas war, was alle jungen Leute auf dem Riff irgendwann einmal bewegte. Es war der uralte Konflikt zwischen den Jungen, die sich nach Freiheit sehnten, und den Alten, die sich in ihr Schicksal gefügt hatten. »Aber wir sind keine Piraten mehr!«, rief sie leidenschaftlich aus. »Die Tamoyer können uns doch nicht für etwas verantwortlich machen, was unsere Vorväter vor Generationen einmal getan haben.«
»Du vergisst, was der König von Tamoyen gesagt hat.«
»Ja, auf dem Sterbebett.« Caiwen gab einen verächtlichen Laut von sich. »Das ist doch schon eine Ewigkeit her. Wer sagt uns denn, dass der neue König uns immer noch hasst?«
»Wer sagt, dass er es nicht tut?« Lenval nahm erneut einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und schaute Caiwen an. Die selbstsichere Art, mit der er seine Argumente vorbrachte, machte Caiwen wütend. »Niemand!«, rief sie aus. »Niemand kann uns das sagen. Wie denn auch? Ihr ertränkt ja alle, ehe sie uns Antworten geben können.« Sie ging zum Tisch, stützte die Hände auf und sah ihrem Vater herausfordernd in die Augen. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, dass ihr es gar nicht wissen wollt. Ihr wollt hier gar nicht mehr weg.« Ein greller Blitz, gefolgt von einem krachenden Donnerschlag, unterstrich die Worte, die sie schon hundertmal gedacht, aber immer für sich behalten hatte. Jetzt waren sie heraus, und Caiwen fragte sich, wie ihre
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