Das Vermächtnis der Feuerelfen
Eltern wohl auf den Vorwurf reagieren würden.
»Du irrst dich.« Lenval blieb ruhig. »Wir fragen sie danach. Wieder und wieder. Aber die Antwort ist immer dieselbe. Die Könige Tamoyens fühlen sich dem Schwur, alle Nachfahren der Piraten zu töten, auch weiterhin verpflichtet. Es tut mir leid, aber du musst dich damit abfinden. Selbst wenn wir es wollten, wir können diese Insel nicht verlassen.«
Das war gelogen. Caiwen schnappte nach Luft. Noch nie hatte sie die Unwahrheit in den Worten ihres Vaters so deutlich gespürt wie in diesem Augenblick. Die ungeheure Wucht der Empfindung
ließ keinen Zweifel daran, dass niemals auch nur ein Schiffbrüchiger von den Männern befragt worden war.
»Da hörst du es«, mischte sich Verrina wieder in das Gespräch ein. »Die Männer tun ihr Möglichstes, damit wir hier irgendwann fortkommen. Aber die Tamoyer hassen uns noch immer.«
Caiwen schaute ihre Mutter nur an. Normalerweise ließ sie sich nicht den Mund verbieten und vertrat ihre Meinung stets laut und deutlich, aber diesmal war sie klug genug, ihrem Vater nicht zu widersprechen. So deutlich, wie sie die Lüge in seinen Worten gespürt hatte, fühlte sie jetzt, dass Verrina ihm bedingungslos glaubte. Die Erkenntnis erschütterte sie. Erst jetzt begriff sie wirklich, was vor sich ging. Die Männer waren es, die das Riff nicht verlassen wollten. Um ihr kleines Reich zu erhalten, pflegten sie die uralte Angst vor dem König in Tamoyen, belogen ihre Familien und machten sich nicht einmal die Mühe zu erfahren, wie es wirklich um sie stand. Plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob es stimmte, was Armide ihr über die Boote erzählt hatte. Vielleicht war das Festland gar nicht so weit entfernt, wie immer behauptet wurde, vielleicht konnte man es mit einem der Boote durchaus erreichen …
»... das verstehst du doch sicher - oder?« Verrina hatte weitergesprochen, ohne dass Caiwen ihr zugehört hatte.
»Ja.« Caiwen seufzte und nickte matt. Sie wollte nicht streiten und bemühte sich um einen versöhnlichen Tonfall. »Ja, das verstehe ich.«
»Na also.« Verrina lächelte und nahm den Mantel wieder zur Hand, um die begonnene Arbeit zu beenden. »Ich wusste doch, dass du vernünftig bist.«
Lenval sagte nichts, aber Caiwen spürte, dass er zufrieden war. Alles würde so weiterlaufen, wie er es für gut und richtig hielt. Ohne unbequeme Fragen und ohne Unruhe. Das war für ihn und vermutlich auch für die anderen Männer auf dem Riff das Wichtigste. Für ihn war die Sache erledigt.
Für Caiwen nicht. Als der Sturm zur Mitte der Nacht endlich schwächer wurde, lag sie immer noch wach und grübelte darüber nach, wie viel die Männer vom Riff wussten und ob die Lügen, mit denen sie hier alle lebten, noch weiter gingen, als sie angenommen hatte.
GESTRANDET
D as Erste, was Durin spürte, war die Kälte. Eine wilde, beißende Kälte, die ihn gefangen hielt und jede Bewegung unmöglich machte.
Nackt und mittellos wirst du die Hallen der Ahnen betreten.
Die Worte, die die Priester Tamoyens bei den Totenfeiern verkündeten, kamen ihm in den Sinn. Und er fragte sich, ob es in den Hallen nicht ein wenig wärmer sein könnte. Blinzelnd versuchte er, die Augen zu öffnen, gab es aber gleich wieder auf, weil ein grelles Licht ihn blendete. Was war das nur für ein Empfang? Durin fluchte leise. Wo waren die schönen Maiden, die den gefallenen Kriegern das Tor ins Jenseits öffneten, wo sie den Lohn für Ruhm und Tapferkeit erhielten, bis sie in neuer Gestalt in die Welt der Lebenden zurückkehren durften? Wo war der Wein, der hier in Strömen fließen sollte? Wo die Musik, zu der die Maiden zur Freude der Krieger tanzten?
Durin fühlte sich betrogen. Waren die endlosen Winter, in denen er sein Leben für Tamoyen und den König riskiert hatte, denn gar nichts wert? Oder waren die Worte der Priester gar eine Lüge? Was hatte er getan, dass er dazu verdammt war, nackt und frierend im gleißenden Licht auszuharren, bis …?
Ein Grunzen in unmittelbarer Nähe unterbrach den Strom seiner Gedanken. Durin lauschte angestrengt und endlich drangen
auch die anderen Geräusche der Umgebung bis in sein Bewusstsein vor.
Wellenrauschen!
Durin stutzte. Das war das Letzte, was er in der Welt der Ahnen erwartet hätte. Er lauschte erneut. Aber wieder waren nur die Klänge von Wind und Wellen zu hören - und das widerliche Grunzen.
Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es Durin, den Kopf anzuheben und ihn in die Richtung zu
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