Das Vermächtnis der Feuerelfen
dass niemand auf das Boot achtete, dessen Plane sich wie von Geisterhand bewegte. Eine Zeit lang sah Finearfin nur die Matrosen, die sich überschwänglich begrüßten und kameradschaftlich auf die Schultern klopften, dann sah sie Durin, den Kopfgeldjäger, den sie im Hölzernen Fass getroffen hatte, und ein Mädchen mit hellblonden Haaren an Bord kommen. Er wollte dem Mädchen helfen, aber es schlug seine Hand fort, maß ihn mit einem vernichtenden Blick und kletterte behände über die Reling.
Das ist sie! Die Erkenntnis durchzuckte Finearfin wie ein Blitz. Das Mädchen war seiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein Irrtum war ausgeschlossen. Sie war die Tochter der Hohepriesterin. Finearfin spürte, wie ihr Herz heftig zu pochen begann. Die Strapazen der Reise waren nicht vergebens gewesen.
An Bord wurde das Mädchen von dem Kapitän und einem anderen Mann begrüßt, der die Züge eines Elfen trug, aber keiner war. Finearfin sah ihn zum ersten Mal und runzelte die Stirn. Ihr
blieb jedoch keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, denn in diesem Augenblick wurde ein Verletzter über eine Winde an Bord gehoben, dem die volle Aufmerksamkeit des Mädchens galt. Ohne die Begrüßung der beiden Männer zu erwidern oder deren Fragen zu beantworten, kniete sie neben dem Bewusstlosen nieder und strich ihm sanft über die Wange.
Finearfin sah den Ausdruck in ihren Augen und fing ein Gefühl tiefer Zuneigung auf, das das Mädchen mit dem Verletzten verband. Sie waren Freunde, das erkannte sie auf den ersten Blick.
»Was geschieht mit ihm?«, richtete das Mädchen eine Frage an den Kapitän.
»Wir bringen ihn unter Deck. Macht Euch keine Sorgen um ihn. Ein Heiler wird sich um ihn kümmern.«
»Ich bleibe bei ihm.«
»Für Euch haben wir eine eigene Kajüte vorbereitet«, sagte der Kapitän bestimmt. »Der Heiler ist ein erfahrener Mann. Er wird ihn bestens versorgen.«
»Ich bin auch eine Heilerin«, beharrte das Mädchen.
Der Kapitän lächelte. »Eurem Freund wird nichts geschehen«, sagte er noch einmal und nickte dann dem Mann neben ihm zu. »Melrem wird Euch jetzt Eure Unterkunft zeigen und Euch alle Fragen beantworten. Danach werden wir zusammen mit Durin speisen.« Er machte eine kurze Pause, schaute zu den Inseln hinüber und fügte hinzu: »Wir alle sind begierig zu erfahren, wie es Euch all die Winter auf dem Riff ergangen ist.« Er winkte zwei Matrosen heran und deutete auf den Bewusstlosen. »Bringt ihn unter Deck! Er muss sofort trockene Kleider bekommen. Wenn er erwacht, gebt ihm etwas Heißes zu essen.«
Die Matrosen nickten und hoben die Planke an, auf der der Junge lag. Das Mädchen wollte ihnen folgen, aber Melrem hielt es zurück. »Du kannst später zu ihm. Jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich.« Er legte ihr in einer väterlichen Geste den Arm um die Schultern und schenkte ihr ein Lächeln. »Ich bin überglücklich,
dass wir dich endlich gefunden haben, Caiwen«, sagte er: »Wir haben so lange nach dir gesucht.«
Voller Sorge schaute Caiwen Heylon nach, machte aber keine Anstalten mehr, ihm zu folgen. Die Freude, ihn nicht verloren zu haben, war groß, wurde aber von der Fülle von Eindrücken überschattet, die hier an Bord der Annaha alle auf einmal auf sie einstürmten.
Das Schiff mit den vier Masten und den schneeweißen Segeln war viel größer, als es vom Riff aus den Anschein gehabt hatte. Es hatte etwas Majestätisches, das Caiwen beeindruckte, ihr aber auch Angst einflößte. Niemals hätte sie gedacht, dass so viele Menschen an Bord sein würden. Die Besatzung begegnete ihr freundlich und zuvorkommend, aber die vielen fremden Gesichter, die sie anstarrten, als wäre sie ein gefangenes Seeungeheuer, verunsicherten sie.
Sie war froh, als Melrem sie unter Deck führte und ihr ihre Kajüte zeigte. In der kleinen Schlafkammer war es ruhig und irgendwie heimelig. Bett, Tisch und Kleidertruhe sahen zwar ganz anders aus als in ihrem Haus auf dem Riff, aber es waren Möbelstücke, die sie kannte.
»Gefällt es dir?«, erkundigte sich Melrem und fügte hinzu: »Ich weiß, die Kajüte ist klein und nicht gerade fürstlich eingerichtet, aber es ist die beste, die wir haben.«
»Ich finde sie sehr gemütlich.« Caiwen ging zum Bett und strich mit der Hand über den kostbaren weißen Bezug der Daunendecke, während sie das Bett in Gedanken mit ihrem eigenen, harten Lager auf dem Riff verglich, dessen Decken alt und zerschlissen gewesen waren. Dieses Bett hier erschien ihr im
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