Das Vermächtnis der Feuerelfen
langsam legten. »Mar-Undrum sei gepriesen, der Mhorag hat uns verschont.«
Seine Worte weckten die anderen aus ihrer Starre. Der Anblick des ruhigen Wassers schien ihnen neue Hoffnung zu geben, auch wenn die meisten immer noch furchtsam auf das Meer hinausschauten.
Durin nutzte die Gelegenheit, um die Männer anzutreiben. »Seht ihr, es ist nichts passiert! Also los, Männer. Zurück an die Riemen. Je schneller wir die Annaha erreichen, desto …«
Das letzte Wort wurde von einem erschrockenen Aufschrei der Männer übertönt, als sich unmittelbar neben dem Boot ein gewaltiger grauer, echsenförmiger Kopf aus dem Wasser schob. Er ging in einen dicken schlangenförmigen Hals über, der sich scheinbar endlos aus dem Wasser reckte und vier Mannslängen über dem Boot verharrte.
Caiwen hielt den Atem an. Niemals zuvor hatte sie ein so furchteinflößendes Wesen gesehen. Aber schlimmer noch als das Seeungeheuer war für sie der Anblick der reglosen, nassen Gestalt,
die es in seinem Maul hatte. »Heylon!« Das Wort war nicht mehr als ein Flüstern.
Neben sich hörte sie den weißbärtigen Matrosen ein hektisches Gebet murmeln, während die anderen im Boot blass und verängstigt auf das Untier starrten, das sich wie ein monströser Gott des Todes über sie beugte. Die Männer hatten ihre Waffen gezogen, aber niemand machte davon Gebrauch. Die Angst, dass eine einzige falsche Bewegung den Mhorag zum Angriff verleiten könnte, war zu groß.
Die Zeit schien still zu stehen. Das einzige Geräusch war das Platschen des Wassers, das aus Heylons Kleidung ins Boot tropfte.
Schließlich neigte der Mhorag langsam seinen Kopf über das Boot. Die Seeleute ächzten und rückten dicht zusammen. Mit blankem Entsetzen beobachteten sie, wie sich das Seeungeheuer weit hinunterbeugte und Heylons leblosen Körper im Boot ablegte.
Für wenige Herzschläge lastete eine vollkommene Stille über den Booten. Dann zerriss das grässliche Kreischen des Mhorags die Luft. Der Kopf schoss ruckartig in die Höhe, als sich das Seeungeheuer herumwarf und in der Tiefe verschwand, ohne eines der Boote anzugreifen.
»Heylon!« Caiwen wartete nicht, bis die Seeleute ihre Fassung wiedergefunden hatten. Voller Sorge kniete sie neben Heylon nieder und strich ihm die dunklen Locken aus dem Gesicht. Er war blass. Furchtbar blass. Seine Augen waren geschlossen. Er atmete nicht. »Heylon!« Caiwen öffnete seinen Mund, hielt ihm mit zwei Fingern die Nase zu und hauchte ihm ihren Atem ein. Einmal, zweimal, dreimal … Sie schluchzte, aber sie gab nicht auf. Viermal, fünfmal, sechsmal. Dann hob sie den Kopf, schaute die Männer an und flehte mit tränenerstickter Stimme. »Helft mir! Wir müssen ihn auf die Seite drehen!«
»Er ist tot, Caiwen!« Durin trat näher und schüttelte den Kopf.
»So lange hält es kein Mensch unter Wasser aus. Schon gar nicht, wenn es so kalt ist. Da kommt jede Hilfe zu spät.«
»Bitte!« Caiwen tat, als höre sie Durin nicht. Ihr Blick streifte den des weißbärtigen Matrosen und blieb daran hängen. »Bitte«, hauchte sie noch einmal.
Der Matrose zögerte. Dann kam er ihr zu Hilfe. Gemeinsam drehten sie den schweren Körper auf die Seite.
Wasser rann aus Heylons geöffnetem Mund. Einen bangen Herzschlag lang geschah nichts. Dann begann er, zu husten und zu würgen, und erbrach Wasser auf die Planken.
»Heylon!« Caiwen strahlte vor Glück. Er hatte das Bewusstsein noch nicht zurückerlangt, aber sie spürte, wie mit dem ausströmenden Wasser immer mehr Lebenskraft in ihn zurückkehrte.
»Mar-Undrums Wille ist unergründlich.« Der weißbärtige Matrose lächelte. »Dein Freund ist wahrlich ein Gesegneter. Mar-Undrum selbst hat ihm das Leben geschenkt. Er schickte ihm seine stärkste Kreatur zu Hilfe, damit wir uns seiner annehmen.«
»Das werden wir nicht!« Durins Stimme schnitt wie ein Peitschenhieb durch die Luft.
»Es ist Mar-Undrums Wille, dass er lebt«, beharrte der Matrose. »Uns wurde aufgetragen, für ihn zu sorgen. Tun wir das nicht, wird uns Mar-Undrums Fluch auf jeder Reise verfolgen. Der Junge kommt mit!«, sagte er unter dem zustimmenden Gemurmel der anderen. »Mar-Undrum hat entschieden. Was Ihr für richtig haltet, ist nicht von Belang.«
»Mar-Undrum!« Durin spie verächtlich auf den Boden und wandte sich ab. Es war nicht zu übersehen, wie wütend er war, aber das kümmerte Caiwen nicht. Sie hatte nur Augen für Heylon, der aufgehört hatte zu husten und in einen erschöpften Schlaf gefallen
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