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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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bin, sie zu kennen, wage ich zu behaupten, dass es für sie auch eine Frage der Moral war. Es war der Unterschied zwischen Angriff und Verteidigung, zwischen dem Versuch zu heilen und der Vernichtung eines Lebens. Larenia wollte ihre Kräfte nicht einsetzen, um zu töten. Macht bedeutete Verantwortung, das wusste sie, und sie wollte ihre Macht nicht missbrauchen. Sie versuchte einem Ideal treu zu sein in einer Welt, in der es keine Vollkommenheit gab. Und so geschah es, dass sie kaum vierzehn Tage später genau das tat, was sie stets abgelehnt hatte.
    Zum anderen hatte sie meine Anschauungen über Recht und Unrecht tief erschüttert. Ich hatte unsere Gesetze lange studiert und stets für gerecht gehalten. Und dann sagte Larenia zu mir, dass die Gesellschaft den Menschen erst zum Verbrecher machte. Sicherlich waren ihre Worte kein absolutes Dogma. Aber es führte mir eine Sache deutlich vor Augen: Gerechtigkeit ist nicht das Gleiche wie Recht, denn letztendlich ist Gerechtigkeit ein subjektives Gefühl, dem man mit allen Gesetzen dieser Welt nicht gerecht werden kann. Und dann war es für mich, der ich stets ein privilegiertes Leben geführt hatte, schön und gut, über Glück und Wohlstand zu sprechen. Doch in unserer Welt gab es so viel Leid und Armut, auch ohne Krieg. Jetzt, da ich es gesehen hatte, würde ich es nicht mehr vergessen.
    Eine andere, wenn auch angenehme Überraschung war für mich Skayé. Es war die seltsamste Stadt, die ich je gesehen hatte, und ohne Larenia wäre ich wahrscheinlich vorbeigegangen. Die Häuser waren so perfekt in den Wald eingefügt, dass man sie beinahe für Bäume halten konnte. Auch die Menschen waren anders als alle, denen ich je begegnet war. Für mich gehörten die Waldläufer ins Reich der Legende. Einst hatten sie die Grenze zwischen Anoria und dem Elfenreich bewacht und das taten sie noch immer. Aber es überraschte mich, dass sie in ärmlichen Verhältnissen und nicht anders als die Bauern in der Nähe Aridas lebten. Nur eines unterschied sie von diesen Menschen. Jedes Kind, jeder einzelne Bewohner der Stadt, hatte das Waffenhandwerk erlernt und das machte sie für uns so wertvoll. Tatsächlich schienen sie nicht abgeneigt, uns zu helfen, aber ich greife dem Geschehen voraus. An jenem Tag erreichten wir am späten Abend die Stadt. Ich war müde und alles außer einer guten Mahlzeit und einem weichen Bett war mir inzwischen egal. Nur eines fiel mir an diesem Abend noch auf: Die Waldläufer schenkten Larenia, die sie wahrscheinlich nie zuvor gesehen hatten, viel mehr Aufmerksamkeit als mir.
     
    Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Julius am nächsten Morgen aufwachte. Einen Augenblick lang lag er still im Bett, ohne zu wissen, wo er war oder wie er hierhergekommen war. Nur langsam kehrte seine Erinnerung an den gestrigen Tag, an ihren Weg durch den Wald und den Überfall der Gesetzlosen, zurück. Gestern hatte er erfahren, was Angst bedeutete, aber an diesem Morgen fiel es ihm schwer, sich zu fürchten. Seit langer Zeit, zum ersten Mal auf dieser Reise, hatte er ohne das Gefühl von Bedrohung oder einen Anflug von schlechtem Gewissen geschlafen. Jetzt war er hellwach.
    Langsam sah er sich in dem kleinen Raum, dem einzigen Zimmer der Holzhütte, um. Neben dem Bett gab es nur noch einen Tisch und zwei Stühle. Über der Lehne des einen hing sein Mantel.
    Und dann wusste er, was ihn geweckt hatte.
    Er war allein. Am Abend, da war er sich sicher, war Larenia bei ihm gewesen. Kurz bevor er eingeschlafen war, hatte er sie auf dem Boden sitzen sehen, den Kopf an die Wand gelehnt, und ihre Augen hatten im matten Licht einer Fackel geleuchtet. Jetzt war sie verschwunden. Nur ihr Schwert lehnte noch an der Wand.
    Julius sprang aus dem Bett. Er nahm sich gerade noch die Zeit, nach seinem Mantel zu greifen, bevor er aus der Hütte stürmte.
    Draußen herrschte geschäftige Betriebsamkeit. Skayé war sehr klein, innerhalb der Stadt lebten vielleicht zweihundert Menschen, aber jeder Einzelne schien auf den Beinen zu sein und seinen täglichen Aufgaben nachzugehen. Julius blieb vor der Tür des Hauses stehen und sah sich hilflos um. Wie sollte er in diesem Gewirr Larenia finden, wenn sie überhaupt noch in der Stadt war? Jemanden zu fragen hätte nichts genützt, denn die Gildeherrin konnte es vermeiden, gesehen zu werden.
    Mühsam kämpfte Julius seine Panik nieder. In den letzten Tagen hatte er sich daran gewöhnt, sich in jeder Situation auf sie verlassen zu können. Mit ihrer

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