Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
jetzt begriff sie das Ausmaß ihres Verrates. Was zählte schon ein Leben, wenn man es sich mit dem Tod von dreihundert Unschuldigen erkauft hatte? Es war nichts als Egoismus gewesen, Selbstsucht. Und dennoch hatte Juliens erster Gedanke nach Beginn des Angriffs ihrer Sicherheit gegolten.
Es würde Jahre dauern, bis Aridas Wunden heilten, falls es überhaupt je möglich war. Das erkannte Patricia, als sie an diesem Morgen hoch über der Stadt stand. Noch immer regnete es und ihre Kleidung war durchnässt, aus ihrem Haar tropfte das Wasser. Langsam breitete sie die Arme aus. Sie trat ganz nah an den Mauerrand und blickte in die Tiefe. Sie könnte es jetzt beenden, jedes Schuldgefühl, alle Qualen hinter sich lassen. Dem Schmerz entfliehen.
Aber sie tat es nicht. Stattdessen wandte sie sich ab und ließ die Arme sinken. Es musste eine Möglichkeit geben, ihren Fehler wieder gutzumachen. Sie wusste, dass sie diesen Weg allein finden musste. Ihre Schuld würde sie niemals abtragen können, auch das war ihr klar. Zu viel war geschehen. Zu viel Leid, zu viel Elend …
Die Anorianer hatten gesiegt. Entgegen jeder Erwartung hatten sie die Brochonier zurückschlagen können, obwohl der Preis sehr hoch gewesen war. Die Nachricht verbreitete sich mit unglaublicher Geschwindigkeit in ganz Anoria und bereits nach zwei Tagen erwachte Arida zu neuem Leben. Bauern kamen, um ihre Waren zu verkaufen, die Handwerker öffneten wieder ihre Geschäfte und ein Großteil der Flüchtlinge kehrte zurück.
Und doch war es nicht die gleiche sorglose Fröhlichkeit. Die Menschen sprachen eine Spur zu laut, ihr Lachen wirkte zu schrill, um echt zu sein. Sie begannen zwar, neue Häuser zu bauen, aber ihnen fehlte die Begeisterung. Noch immer waren viele verletzt und kämpften mit dem Tod und es gab zu wenig Heilkundige, um ihnen allen zu helfen.
All das sah Elaine deutlich, als sie durch die Straßen ging. Arida hatte seine Seele verloren. Was war die Stadt der Könige ohne ihren Glanz und ihren Reichtum? In den großen Straßen hallte das aufgesetzte Lachen wider, doch wenn man eine Nebenstraße und Gässchen betrat, hörte man das Stöhnen und Wehklagen der Kranken und Verwundeten, der Verlassenen und Obdachlosen.
Logis’ Tochter hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diesen Menschen zu helfen. Im Palast kam sie sich unnütz vor. Niemand schenkte ihr dort Aufmerksamkeit und sie war allenfalls überflüssig. Auch hier, bei den Armen und Kranken, konnte sie wenig tun, doch zumindest hatte das wenige einen Sinn. Tief in ihrem Inneren grollte sie der Gilde der Zauberer. Elaine hatte von den Heilkräften der Kandari gehört. Sie war mit den wunderbaren Erzählungen über ihre Taten aufgewachsen, doch wenn ihre Fähigkeiten wirklich so groß waren, warum kamen sie dann nicht hierher und halfen? Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie beinahe einen weiß gekleideten Mann umrannte. Sie murmelte eine Entschuldigung und wollte weitergehen, doch –
„Elaine? Was tust du hier?“
Sie sah auf und erkannte Felicius. Für einen Augenblick schwankte sie zwischen Erstaunen und Ärger und dementsprechend ungnädig klang ihre Antwort:
„Ich versuche zu helfen. Etwas, das eigentlich Eure Aufgabe sein sollte.“
Felicius lächelte nur über ihren groben Ton: „Jeder von uns hilft nach seinen Fähigkeiten. Was ist mit dir? Solltest du nicht bei Logis sein?“
Elaine verzog das Gesicht. Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihrem Vater nicht von der Seite gewichen wäre. Doch es hatte sich so viel verändert. So antwortete sie nur: „Niemand braucht mich dort“, dann schien sie es sich anders zu überlegen, „wäre ich als Junge geboren worden, hätte ich meine Heimat verteidigen können. Man hätte mir beigebracht, zu kämpfen. Doch so schickt man mich weg, sobald es gefährlich wird. Ich falle allen nur zur Last.“
Felicius’ Blick wurde ernst: „Du solltest froh darüber sein, nicht kämpfen zu müssen. Die wenigsten werden so behütet und beschützt. Wirf es nicht weg aus einer Laune heraus oder weil du dich ungerecht behandelt fühlst.“
Elaine seufzte. Sie wusste, dass sie ihrem Vater unrecht tat. Logis hatte ihr viele Freiheiten eingeräumt.
So eilte sie hinter Felicius her, der inzwischen weitergegangen war.
„Aber warum bist du allein? Was ist mit den anderen Gildemitgliedern?“
„Wie ich schon sagte: Jeder von uns hat andere Fähigkeiten.“
Damit konnte sich Elaine nicht zufriedengeben. Zu lange hatte sie versucht,
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