Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
geschehen?“
Eine Antwort war unnötig. Sie alle wussten, was passieren würde. Sie las es in ihren Gesichtern und in ihren Gedanken. Einen Augenblick stand Larenia wie erstarrt da, unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Doch dann änderte sich ihre Haltung. Plötzlich wirkte sie wieder kühl, sicher und distanziert: „Wenn es keinen anderen Weg mehr gibt, werde ich tun, was notwendig ist.“
Sie wandte sich um und ging. Nach kurzem Zögern folgte ihr Arthenius.
Er fand sie auf der Freitreppe des Palastes sitzend. Er sprach sie nicht an oder machte sie auf eine andere Weise auf seine Anwesenheit aufmerksam, sondern setzte sich schweigend neben sie.
Nach langer Zeit sah sie ihn mit sonderbar entrücktem Gesichtsausdruck an: „Weißt du, wie es sich anfühlt, seine Fähigkeiten so einzusetzen, allein durch die Kraft der Gedanken jemanden zu töten?“ Sie flüsterte fast, sodass Arthenius sie nur mit Mühe verstehen konnte. „Es ist wie das Ersticken einer Flamme. Man fühlt, wieder Gegner verzweifeltkämpft, sich mit aller Kraft an ihr Leben klammert, man spürt seinen Herzschlag, das langsame Dahinschwinden seiner Gedanken. Und alles, was man will, ist loslassen, helfen. Nur Grausamkeit und Hass befähigen dich, weiterzumachen. Und plötzlich ist da … nichts mehr. Vollkommene Leere, wo einst ein lebendes, denkendes, fühlendes Wesen war. Ich wollte es vergessen, meine Kräfte nie wieder auf diese Weise missbrauchen. Es ist schrecklich. Damals stand ich mir selbst gegenüber und ich sah mich Dinge tun, von denen ich glaubte, dass ich nicht dazu fähig wäre“, sie schauderte, „und gleichzeitig ist es das Gefühl absoluter Macht. In diesem Augenblick habe ich keine Kontrolle mehr über das, was ich tue. Und davor habe ich Angst. Nicht um mein Leben. Sondern um die Anorianer, um Felicius und die anderen und“, sie sah ihm zum ersten Mal seit langer Zeit direkt in die Augen, „um dich. Du bist es, Arthenius, um den ich mich am meisten sorge.“
In diesem Moment wirkte sie wie ein einsames, verlassenes Kind. Gequält und müde sah sie Arthenius an: „Ich möchte niemanden verletzen. Wie kann ich entscheiden, wer sterben soll und wer das Recht hat zu leben? Und dennoch … Wie könnte ich nichts tun, da ich doch die Macht habe, etwas zu ändern?“
„Du kannst niemals allen helfen, Larenia. Das kann niemand. Alles, was du tun kannst, ist, den Weg zu wählen, der für alle Beteiligten mit dem geringsten Leid verbunden ist.“
Arthenius fühlte ihre Einsamkeit, ihre quälenden Zweifel und ihre beinahe schmerzhafte Sehnsucht nach Liebe, Geborgenheit und Schutz. Aber was konnte er oder irgendjemand tun, wenn sie niemanden mehr an sich heranließ?
„Hör auf, dir an allem die Schuld zu geben. Hierfür trägst du keine Verantwortung.“
Er sagte nichts mehr und auch Larenia schwieg. Doch nach einer Weile lehnte sie den Kopf an seine Schulter und Arthenius fühlte einen Hauch der alten Wärme und Verbundenheit.
Am Morgen des nächsten Tages, des dritten Tages der Schlacht, stand Larenia auf der Stadtmauer kaum eine Armeslänge von der Feuerwand entfernt. Sogar durch das Flammenmeer hindurch waren die brochonischen Schiffe zu sehen und die Reihen ihrer Krieger, die nur auf eine Möglichkeit warteten, Arida erneut anzugreifen.
Larenia seufzte, dann drehte sie sich um. Hinter ihr standen Felicius und Arthenius und beide sahen sie besorgt und wachsam an.
„Ich kann ihre Druiden ausschalten und vielleicht das Feuer löschen. Alles andere bleibt euch überlassen, doch ich glaube nicht, dass die Brochonier dann noch Widerstand leisten werden.“
Sie warf einen letzten Blick auf Arida, auf die verlassenen Straßen, die im bleichen Morgenlicht beinahe silbern wirkten, und auf die Anorianer, die sich mit allem, was sie finden konnten, bewaffnet und hinter der Mauer versammelt hatten. Dann wandte sie sich ab und schloss die Augen. Plötzlich begann die Luft um sie herum zu flimmern. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Blick leer, ihr Gesicht hoch konzentriert. Sie stand vollkommen regungslos da, eingehüllt in blauweißes Licht. Im nächsten Augenblick erklang hinter ihnen ein fernes Donnergrollen. Erstaunt sah Felicius zum Himmel empor. Dunkle Wolken türmten sich auf, ballten sich wütend zusammen und verdeckten die Sonne. Von einem Augenblick zum nächsten wurde es dunkel. Ein Blitz zuckte am Himmel und tauchte die Stadt für einen kurzen Moment in gleißendes Licht. Dann begann der Regen.
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