Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
„Warum? Ich meine, bisher habt ihr die Verhandlungen auch uns überlassen.“
„Dies ist der richtige Moment, um Stärke zu demonstrieren. Und wenn ich mich nicht irre, haben sie die Kandari lange beobachtet. Wenn dem so ist“, Larenia lächelte. Es war ein eisiges Lächeln, „dann wissen sie auch, wer ich bin.“
Sie ignorierte die fragenden und verständnislosen Blicke des Königs und ebenso François’ schockierten Gesichtsausdruck.
„Ich verstehe das nicht. Es würde den Brochoniern doch sicher nützen, ihren Gegner zu kennen“, Julius stand jetzt neben seinem Vater. Nachdenklich sah er die Gildeherrin an. Lange hatte er über das Geheimnis der Gilde nachgedacht. Er konnte nicht glauben, dass es sich ihm nun enthüllen sollte. Und er begriff auch nicht die Notwendigkeit.
„Nein, denn seit ihrem Angriff auf Arida kennen sie unsere Kräfte. Alles, was wir tun, ist ihrem Feind einen Namen geben. Einen Namen, der euch vielleicht etwas Schutz gewähren wird.“
Mehr sagte sie nicht. Zusammen mit François verließ sie den Palast und Arida.
„Verrate mir nur eins: Warum?“, Pierre rannte hinter Larenia her durch einen der langen Gänge des Palastes. Inzwischen war der nächste Tag angebrochen, der dritte im Monat Sénia. Heute erwarteten sie die brochonischen Botschafter. Und Pierre begriff immer noch nicht, warum Larenia die Aufmerksamkeit ihrer Feinde auf sich ziehen wollte. Die Tatsache, dass sie alle Fragen ignorierte, half ihm nicht weiter.
Jetzt drehte sie sich seufzend um: „Was willst du von mir hören?“
„Die Wahrheit! Ich dachte immer, du wolltest das alles nicht. Warum nimmst du jetzt wieder eine Rolle an, die du vor fast dreihundert Jahren aufgegeben hast?“
Inzwischen hatten die anderen Gildemitglieder sie eingeholt. Niemand sprach. Doch kurz bevor das Schweigen erdrückend wurde, antwortete Larenia: „Es stimmt, dass ich niemals nach Macht gestrebt habe. Ich habe nicht um diese Kräfte gebeten. Aber ich besitze sie nun einmal. Was ich will, spielt keine Rolle mehr, vielleicht war es niemals wichtig. Doch niemand kann der Verantwortung ewig entfliehen. Dies ist nicht der Krieg der Anorianer. Es ist an der Zeit, dass die Kandari die Verantwortung für ihre Vergangenheit übernehmen.“
Pierre erwiderte ihren ruhigen, ernsten Blick. Auch als sie sich abwandte und weiterging, starrte er ihr noch lange hinterher. Jedes einzelne Wort war wahr. Und doch hatte er, ebenso wie die anderen Gildemitglieder, gehofft, dass es nicht Larenia sein würde, die für die Fehler der Vergangenheit büßen musste. Er kannte sie zu gut, um etwas anderes zu erwarten. Larenia konnte nicht anders handeln. Ihr Gefühl für Recht und Unrecht ließ es nicht zu, dieser Konfrontation auszuweichen.
Pierre sah zu Philipe: „Was wird geschehen?“
„Was geschehen muss. Wir können es nicht ändern.“
Die ersten Sonnenstrahlen leuchteten durch die hohen Fenster der Ratshalle und tauchten den Saal in ein geisterhaftes, unwirkliches Licht. Julien saß gefasst und würdevoll auf seinem Thron. Er sah im Blau seines Clans und mit dem goldenen Stirnreif des Hochkönigs auf dem Kopf sehr beeindruckend aus. Zu seiner Linken stand Julius. Er trug ein Kettenhemd unter seinem dunklen Umhang, doch ebenso wie alle anderen Anwesenden war er unbewaffnet. Das war natürlich Larenias Idee gewesen. Es demonstrierte ihr Vertrauen in die Macht der Gilde und die Traditionen Metargias. Das behaupteten zumindest die Gildemitglieder.
Auf Juliens rechter Seite stand Larenia. Wenn sie ängstlich oder nervös war, so ließ sie es sich nicht anmerken. Im Gegenteil. Sie strahlte eine unglaubliche Macht und eisige Kälte aus. Selbst jene, die sie gut kannten, hatten sie selten so gesehen. Im Hintergrund standen die sechs anderen Gildemitglieder. Stumme Wächter, eine schweigende Drohung und Demonstration von Stärke. Sonst war niemand anwesend. Dann erklang das Geräusch schwerer Schritte. Julius konnte seine gefasste Miene nicht länger aufrechterhalten. Ängstlich sah er zu seinem Vater, der seine Gefühle nicht erkennen ließ. Dann begegnete er Larenias Blick.
„Hab keine Angst. Niemandem wird etwas geschehen. Heute nicht.“
Julius war sich nicht sicher, ob sie diese Worte laut aussprach. Doch für einen kurzen Augenblick empfand er Zuversicht. Jedoch verflog jede Spur von Optimismus im nächsten Moment.
Die Tür schwang auf. Zwei Männer betraten den Thronsaal. Einer war groß und kräftig. Er mochte in Julius’ Alter
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