Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Schatten der Säulen stand Larenia und beobachtete sie. Jedoch antwortete sie nicht sofort auf seinen fragenden Blick. Tatsächlich schien sie zu zögern, etwas, das Julien nie zuvor erlebt hatte.
„Ihr müsst sie täuschen, so lange Widerstand leisten, bis die Letzten in Sicherheit sind. Es müsste eine kleine Gruppe sein, schnell und entschlossen, gerade stark genug, die Brochonier eine kurze Weile aufzuhalten.“
Julien verstand sowohl ihre Worte als auch den Teil, den sie nicht aussprach. Für jene, die er schickte, würde wenig Hoffnung bestehen, zurückzukehren.
„Ist das notwendig?“
Lange Zeit sah Larenia den König an. Ihr Blick wirkte sonderbar losgelöst und traurig. Als sie schließlich sprach, schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen: „Alles, was ihr gewinnen könnt, ist Zeit, genug Zeit vielleicht, um ein paar Leben zu retten. Die Entscheidung liegt bei euch.“
Julien senkte den Blick.
„Ja“, flüsterte er, doch in der Stille des Saals klang sogar sein Flüstern laut und dröhnend, „es ist nötig.“
„Kannst du denn nichts tun?“
All die Hoffnungen und Erwartungen, die Julius in die Gilde gesetzt hatte, gerieten ins Wanken. Er hatte geglaubt, die Kandari könnten alle Probleme mit einer Handbewegung, einem Gedanken aus dem Weg räumen. Aber Larenia schüttelte nur langsam den Kopf.
„Nein, das kann ich nicht“, sie schloss die Augen, „nicht ohne die Welt zu vernichten. Der Preis wäre zu hoch.“
„Ich werde gehen.“
Larenia fuhr herum. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie Philipe an: „Nein!“
Aber ihr Protest ging in dem erleichterten Aufatmen der Menschen unter. Allein die Tatsache, dass die Gilde sie noch immer unterstützte, genügte, um ihnen neuen Mut zu geben. Doch Philipe achtete nicht auf die Soldaten oder auf Julien und seinen Sohn. Er konzentrierte sich allein auf Larenia.
„Meine Gabe ist es, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sehen“, sagte er in der Sprache der Kandari, „ich weiß Dinge, die selbst du nicht erkennen kannst. Vertraue mir.“
Zwei Tage später brachen sie auf. Zweihundert Mann der königlichen Garde unter der Führung von Philipe. Mehr konnte Julien in der kurzen Zeit nicht finden, die bereit gewesen wären, zu gehen. Außerdem mussten genug ausgebildete Soldaten zurückbleiben, um Arida zu verteidigen.
Sie brachen bei Sonnenaufgang am siebzehnten Tag des Monats auf. Eine schweigende Menschenmenge säumte die Straßen der Stadt der Könige an diesem Morgen. Jeder kannte den Auftrag dieser Männer. Und ihre geringe Hoffnung auf Erfolg. Dementsprechend bedrückt waren die Herzen der Menschen, derer, die zu diesem hoffnungslosen Unternehmen auszogen, als auch derer, die zurückblieben. Es gab niemanden, der nicht schon einen Freund oder Verwandten in diesem Krieg verloren hatte. Sie alle wussten inzwischen, was Kampf und Tod bedeutete. Doch keiner konnte ganz ermessen, was es hieß, mit offenen Augen in sein Verderben zu laufen.
Wie Schatten ritten sie durch die Straßen der Stadt. Und in jedem Gesicht widerspiegelte sich die Gewissheit, dass sie nicht zurückkommen würden. Grau und bleich sammelten sie sich vor den Toren der Stadt.
Dann ging die Sonne auf. Klar und silbern erschallte ein Horn und die Schar ritt los. Lange noch konnte man sie vom Schloss aus auf der Ebene von Arida sehen. Aber dann verklang das Donnern der Hufe und sie waren verschwunden.
Am Nachmittag des gleichen Tages kehrte Pierre zurück. Allerdings kam er nicht allein. In seiner Begleitung befanden sich dreihundert Flüchtlinge aus Dalane, Cordac und Rosaria sowie eine kleine Gruppe von Waldläufern. Es hatten noch mehr aus der Hauptstadt Terraniens fliehen können, doch die meisten waren in den Wäldern zurückgeblieben oder nach Askana gegangen. Jedoch waren alle, die in die Stadt der Könige gezogen waren, bereit zu kämpfen. Besonders wertvoll für Anoria waren die Waldläufer, denn seit Jahrhunderten wachten sie über die Grenzen des Königreiches.
Mit gesenktem Blick und wütend vor sich hin murmelnd hastete Pierre durch einen Gang des Palastes in Richtung Ausgang. Gerade hatte er mit Julien gesprochen und er war so vertieft in seine Gedanken über die Neuigkeiten, die er soeben gehört hatte, dass er beinahe Larenia umrannte. Überrascht sah er auf. Und dann verfinsterte sich sein Blick.
„Bist du jetzt völlig verrückt geworden? Warum hast du das zugelassen?“
Larenias Lächeln verblasste schlagartig und auch Felicius,
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