Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
langsam erwachte und die Sorgen und Kümmernisse des täglichen Lebens wieder an Substanz gewannen.
Der Zauber des Sonnenaufgangs verging und Arthenius wandte sich seufzend ab. Es war wieder einmal Soléa aestéa, der Tag der Sommersonnenwende, ein Fest, das in ganz Metargia gefeiert wurde. Doch für die Gilde hatte dieser Tag eine andere Bedeutung.
Er betrat den Zauberturm und blinzelte ein paar Mal im plötzlichen Zwielicht. Dann gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse und er entdeckte eine kleine, schlanke Gestalt am anderen Ende des Saals.
Larenia stand mit dem Rücken zur Tür. Sie bemerkte sein Eintreten nicht. Stattdessen starrte sie konzentriert auf einen Gegenstand in ihrer Hand herab. Auch als Arthenius lautlos näher trat, sah sie nicht auf.
Inzwischen war er ihr so nahe, dass er über ihre Schulter blicken und erkennen konnte, was sie in den Händen hielt. Es war ein schmaler Stirnreif aus Weißgold, kunstvoll gearbeitet und mit sieben Edelsteinen verziert. Das Kennzeichen der Thronfolger von Hamada. Und er erinnerte sich …
Eine hohe, einst weiße und jetzt sandfarbene Halle mit kunstvoll verzierten Säulen. Die kühlen Gesichter der grau gekleideten Kandari. Das Sonnenlicht spiegelte sich in Larenias Haar. Plötzlich erklang laut und schrill in der Stille das Klirren von Metall auf Stein, als sie den Stirnreif Laurent vor die Füße schleuderte. Dann sprach sie mit klarer, kühler Stimme und ihre Worte hallten erstaunlich laut durch den schweigenden Saal: „Ich habe meinen Eid nicht gebrochen. ‚Dem Volk zu dienen‘, das habe ich geschworen und genau das habe ich versucht, zu tun. Und was tatest du in all den Jahren? Auf welche Weise dienst du deinem Volk, Laurent? Vielleicht habe ich versagt. Und wenn es ein Fehler ist, Unrecht zu bekämpfen, dann bin ich schuldig. Aber du, du hast jahrhundertelang abgewartet, während Unschuldige gelitten haben unter der Tyrannei der Bewahrer. Niemals werde ich mich abwenden und die Augen vor der Wirklichkeit verschließen, so wie du es getan hast.“ …
„Zweihundertfünfundachtzig Jahre“, der leise Klang ihrer Stimme riss Arthenius aus seinen Erinnerungen, „zweihundertfünfundachtzig Jahre sind vergangen, seit wir aus Hamada verbannt wurden. Es war auch Sommersonnenwende“, sie drehte sich um und sah zu Arthenius auf, „es scheint kaum ein Tag verstrichen zu sein.“
Aufmerksam sah er in Larenias schmales Gesicht. Es stimmte, rein äußerlich hatte sie sich kaum verändert und sie schien keinen Tag gealtert zu sein. Das traf auf sie alle zu. Aber etwas in ihrem Blick, in ihrer Haltung, in ihrer Art, die Augenbrauen hochzuziehen, anstatt zu lächeln, verriet nur zu deutlich, wie viel Zeit vergangen war. Damals hatte sie geglaubt, die Welt verändern zu können. Sie hatte, so wie viele andere auch, gedacht, es würde genügen, Gutes tun zu wollen, einem Ideal zu folgen. Heute wusste sie es besser. Diese Welt war nicht perfekt. Und auch, wenn sie nicht resignierte und verzweifelte, gab sie sich keinen Illusionen mehr hin.
Arthenius blickte wieder auf den Stirnreif herab: „Woher hast du das?“
„Merla gab es mir, bevor wir uns damals trennten“, sie wandte sich ab und blickte aus dem Fenster über die Hochebene von Magiara, „fragst du dich nicht manchmal, was geschehen wäre, wären wir damals geblieben?“
Arthenius strich über ihr weiches, seidiges Haar. Er wusste, dass sie sich das schon oft gefragt hatte, obwohl sie es nie zuvor laut ausgesprochen hatte.
„Wir hätten nichts ändern können. Im besten Fall wäre alles beim Alten geblieben. Wir hätten nur Blutvergießen, Kampf und Leid verursacht. Bereust du es?“
„Ich habe es geschworen“, flüsterte sie, „aber ich hatte keine Wahl. Wie hätte ich anders handeln können?“
Ihre Worte galten nicht Arthenius, das wusste er. Seitdem sie sich entschlossen hatten, die Kandari zu verlassen und bei den Menschen zu leben, quälten sie Zweifel. Sie wusste, dass sie auch mit ihrer Anwesenheit nichts verändert hätte, und dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, ihr Volk verraten zu haben.
„Du hast das Richtige getan. Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Und selbst wenn, es gab keine Alternative. Und nun komm“, fügte er in verändertem Tonfall hinzu, „es ist Sommersonnenwende, ein Tag zum Feiern und nicht, um sich mit alten Erinnerungen zu quälen.“
Die Sommersonnenwende war eines der bedeutendsten Feste von Anoria. Weder Krieg, Leid und Tod noch
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