Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
die Hoffnungslosigkeit der Situation konnten die Menschen vom Feiern abhalten. Die Straßen von Arida waren so belebt wie lange nicht mehr. Marktstände säumten die Straßen des oberen Ringes der Stadt und viele hatten ihre Familien für diesen Tag nach Arida geholt. Heute hallte nicht das Waffengeklirr der übenden Soldaten, sondern das fröhliche Lachen ausgelassener Menschen durch die Stadt. An diesem Tag war es möglich, die Brochonier zu vergessen.
Im Palast war die Stimmung allerdings bei Weitem nicht so heiter. Ein Großteil des Adels hatte es nicht gewagt, ihre Städte zu verlassen und die Verteidigung in die Hände anderer zu legen. So war Linda, ebenso wie Elaine, allein gekommen. Askana war die stärkste Festung in ganz Anoria und Eugen würde seine Stadt jetzt nicht verlassen.
Zusammen mit Linda und Elaine ging Julius über den Schlosshof. Hier waren unzählige Holzhütten eilig zusammengezimmert worden und dazwischen standen viele Zelte, die den Männern, die von weit her gekommen waren, um die Stadt der Könige zu verteidigen, als Behausung dienten. Aber Julius bemerkte weder die drückende Enge noch die drängelnden Menschenmassen oder das fröhliche Gelächter. Sein Blick wanderte ununterbrochen zwischen den beiden jungen Frauen an seiner Seite hin und her. Sie waren alle drei beinahe gleich alt. Als Kinder hatten sie miteinander gespielt und waren für eine Weile nahezu unzertrennlich gewesen. Was hatte sich geändert? Das fragte sich Julius, als er zwischen seinen beiden ältesten Freunden dahinschritt. Irgendwie war alles schiefgegangen. Elaines Mutter Eliza war gestorben. Daraufhin hatte Logis für viele Jahre sein Fürstentum nicht mehr verlassen. Er hatte sich auch geweigert, ein zweites Mal zu heiraten. Und so war Elaine zur Erbin ihres Vaters ernannt worden und verbrachte die nächsten Jahre mit der Erziehung, die einer zukünftigen Fürstin zustand. Auch Julius selbst hatte den Großteil seiner Zeit mit seinen Lehrern und Waffenmeistern zugebracht. Und Linda … Da sie zwei ältere Brüder hatte, war es ihre einzige Lebensaufgabe geworden, eine für ihre Familie vorteilhafte Verbindung einzugehen, auch wenn sie die Hoffnung, Königin zu werden, aufgegeben hatte. Sie war eine große, selbstbewusste Frau mit dunkelbraunem Haar und blauen Augen, die in ihrem hellblauen, offensichtlich sehr kostbaren Kleid sehr gut aussah, ohne ausgesprochen schön zu sein. Ihr fehlte der Liebreiz einer Elaine, die Julius entfernt an Larenia erinnerte. Zwar waren ihre Gesichtszüge nicht so perfekt wie die der Gildeherrin, dafür wirkte sie aber menschlicher. Wie sie so in der strahlenden Sonne stand, in zartes Grün gekleidet, sah sie aus wie der zum Leben erwachte Frühling. Sie alle hatten sich sehr verändert und die unbeschwerten Zeiten von einst waren unwiederbringlich vergangen.
Im Palast begann das Fest der Tradition gemäß bei Sonnenuntergang. Neben den Offizieren der königlichen Garde und einem Teil des Adels waren auch Cordac und Rosaria gekommen. Seit ihrer Flucht aus Dalane lebten sie in Arida. Aber sie hatten sich seit der Siegesfeier nach der ersten Schlacht sehr verändert. War Cordac damals zu betrunken gewesen, um alleine stehen zu können, rührte er heute keinen Tropfen an. Er wirkte weniger bäuerlich als zuvor. Tatsächlich legte er sogar so etwas wie höfisches Verhalten an den Tag. Auch Rosaria war stiller und zurückhaltender als gewöhnlich.
Aber das allein war es nicht, was Julius den Ernst ihrer Situation verdeutlichte. Vielmehr war es die Tatsache, dass Philipe noch immer nicht zurückgekehrt war und niemand wusste, ob er noch lebte. Julius hatte die Gilde für übermächtig und unverwundbar gehalten. Natürlich hatte er in den letzten Monaten herausgefunden, dass das so nicht stimmte. Und dennoch traf ihn diese Erkenntnis heute besonders hart.
Seine trübsinnigen Gedanken verflogen schnell, als Patricia und Julien den Saal betraten und das Fest begann. Nachdem alle ihren Hunger gestillt hatten, begannen die Musiker dem Brauch gemäß Lieder zu singen und Gedichte zu rezitieren. An diesem Tag, dem Höhepunkt des Sommers, stand das Leben im Mittelpunkt, die Vorfreude auf eine reiche Ernte, Dankbarkeit für einen ruhigen Frühling und Hoffnung auf einen sonnigen Herbst. Und obwohl der Krieg in diesem Jahr alles überschattete, waren die Anorianer tief mit ihren Traditionen verbunden.
Dennoch kam nicht die gleiche fatalistische Stimmung wie zur Siegesfeier auf. Niemand
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