Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
schweifen, „bedingungsloses Vertrauen, obwohl sie nicht einmal wissen, worum es geht. Vielleicht wäre es besser für sie gewesen, sich mit den Brochoniern zu verbünden.“
Überrascht sah Larenia zu ihm auf: „Glaubst du das wirklich?“
„Woher sollte ich es wissen? Ich kann nicht in die Zukunft blicken.“
„Vielleicht hätte es jetzt weniger Opfer und weniger Leid bedeutet“, sie schüttelte den Kopf, „aber es gab keine Alternative. Wir müssen verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. Die Brochonier handeln nicht anders als es die rachsüchtigen Kandari im ersten Krieg taten. Ihr Sieg könnte noch einmal in tausend Jahre Krieg und Grausamkeit für Metargia führen.“
Julius erzählt:
Als ich am Morgen aufstand, hatte ich gehofft, einen fröhlichen Tag ohne jede Pflicht vor mir zu haben. Eine Pause inmitten der Grausamkeit und des Krieges. Denn inzwischen wusste ich, wie kostbar diese Momente waren. Dass sich der Abend ganz anders entwickelte als vorhergesehen, überraschte mich. Nie zuvor hatte ich erlebt, dass die Gilde uns freiwillig Informationen lieferte und schon gar nicht über die Kandari. Tatsächlich dachte ich jetzt zum ersten Mal über die Hintergründe des Krieges nach. Ich hatte es bisher als Notwendigkeit hingenommen, wenn wir unsere Freiheit und Unabhängigkeit bewahren wollten. Natürlich wusste ich, dass mehr dahintersteckte. Doch es hatte mich bis zu diesem Zeitpunkt nicht interessiert. Ich teilte nicht Elaines Interesse an den Hintergründen der Geschehnisse oder an der Vergangenheit unserer Welt. In der Gegenwart geschah genug, worüber man sich Gedanken machen musste. Dennoch war es sehr aufschlussreich. Ich hatte nicht gewusst, wie blutbefleckt die Geschichte Metargias war. Und was die Kandari betraf, hätte ich gern auf dieses Wissen verzichtet. Bisher hatte ich die Welt in Gut und Böse geteilt, wobei die Kandari für mich das Gute verkörperten. Es war mir klar, dass es nicht so einfach war und es auch niemals sein konnte. Aber diese Ansicht hatte es mir ermöglicht, in diesem Krieg zu kämpfen und all das Leid mit anzusehen. Wie sollte ich es nun ertragen, wenn es kein Gut und Böse mehr gab? Wenn die Taten der einen Seite denen derer, die ich für vollkommen gehalten hatte, glichen, die Grenzen zwischen Verteidigung und Angriff verblassten?
Manche mochten behaupten, dass Fragen der Moral in einem Krieg keine Rolle mehr spielten und dass es letztendlich nur ums Überleben ging. Aber für mich war es die einzige Rechtfertigung gewesen. Ich brauchte die Überzeugung, das Richtige zu tun.
In dieser Nacht, nachdem die Gäste gegen Mitternacht das Schloss verlassen hatten, lag ich schlaflos in meinem Bett und grübelte. Ich hatte die Gilde nie um ihre magischen Kräfte beneidet, doch während ich in der Dunkelheit lag, wünschte ich mir sehnlich, in die Zukunft sehen zu können. Was würde geschehen? Wie würde Anoria in einem halben Jahr zur Wintersonnenwende aussehen? Ich wagte nicht, es mir vorzustellen. Wie viele von denen, die heute Abend gesungen und getanzt hatten, würden das nächste Jahr nicht überleben? Was gab uns überhaupt das Recht, in diesem Krieg für eine Seite Partei zu ergreifen? Wenn das, was Larenia erzählt hatte, stimmte, gehörten die Brochonier zu unserem Volk. Sie waren Menschen so wie wir, fehlgeleitet vielleicht, verblendet durch Jahrhunderte der Propaganda und der Diktatur. Und doch … Wie viele von ihnen waren wie Rowena, nur daran interessiert, die Lebensbedingungen für ihr Volk zu verbessern?
Es gab keine Antworten auf meine Fragen, zumindest keine eindeutigen. Man konnte die Welt nicht in Licht und Schatten teilen. Solange ich denken konnte, hatten die Gildemitglieder ehrenhaft gehandelt und waren ihren Idealen treu geblieben. Über die Kandari als Volk wusste ich nichts, ebenso wenig wie über die Brochonier. Wenn ich diesen Krieg beenden wollte ohne unnötige Opfer und ohne Ungerechtigkeit, gab es nur einen Weg, so unmöglich es auch scheinen mochte. Die brochonische Diktatur, die Hass, Misstrauen und Grausamkeit verbreitete, musste gestürzt werden.
Ich drehte mich auf die andere Seite und starrte die Wand an. Inzwischen schimmerte das erste Licht der Morgendämmerung durch das Fenster. Nun hatte ich eine Lösung. Doch es gab keine Möglichkeit, sie in die Tat umzusetzen. So würden wir also weiter einen Krieg führen, der viele das Leben kostete und letztendlich nur den Weg für neue Grausamkeiten, neue
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