Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
davongelaufen.
In diesem Augenblick blieb Collyn stehen: „Jetzt bist du dran. Du musst die Wachen überreden, dir den Elfen zu zeigen. Gelingt es dir nicht, müssen wir ihn mit Gewalt befreien. Dann wären wir entdeckt und würden wertvolle Zeit verlieren.“
Rowena nickte und knöpfte ihren Mantel auf. Darunter trug sie ein eng anliegendes Kleid, in dem sie ausgesprochen verführerisch aussah. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und ging mit selbstbewussten, wiegenden Schritten weiter. Dies war in dieser Welt des Krieges und der Gewalt ihre einzige Waffe, doch Rowena beherrschte sie meisterhaft.
Sie bogen um eine letzte Ecke und standen nun vor der Zelle des Kandari. Wie Norvan es ihnen gesagt hatte, fanden sie zwei Wächter vor der Tür.
„Was wollt ihr hier? Ihr habt hier nichts zu suchen“, ohne großes Interesse sahen die beiden Soldaten ihnen entgegen. Nicht im Geringsten abgeschreckt oder entmutigt trat Rowena auf den größeren der beiden Männer zu.
„Ich habe von eurem Gefangenen gehört“, ihre volle, tiefe Stimme klang betörend, „und ich möchte ihn sehen.“
Der Mann wich einen kleinen Schritt zurück: „Das ist nicht erlaubt.“
„Bitte“, murmelte sie und strich dabei mit ihrer Hand über die Wange des Soldaten, „lasst mich einen unserer Feinde sehen.“
Der Blick des Mannes glitt von ihren dunklen, samtig-braunen Augen, die geheimnisvoll glühten, abwärts über ihren schlanken Körper, bevor er den Kopf mit einer sichtbaren Willensanstrengung hob und wieder in ihr Gesicht sah.
„Es geht nicht“, flüsterte er, doch es waren nur leere Worte, und während er sie aussprach, schwand seine Gegenwehr dahin. Mit glasigen Augen blickte er wie hypnotisiert auf das Mädchen vor ihm. Langsam streckte er die Hand aus, um ihre dunklen Locken zu berühren. Rowena lächelte.
„Bitte“, wiederholte sie, „nur ein einziger Blick.“ Männer waren so leicht zu manipulieren.
„Öffne die Tür!“, herrschte der Soldat seinen Gefährten an. Als dieser den Mund öffnete, um zu protestieren, fuhr ihn der andere, die Hand noch immer in Rowenas Haar vergraben, an: „Tu, was ich dir sage! Was soll sie schon tun? Den Gefangenen befreien?“
Genau das habe ich vor, dachte sie, aber sie stimmte in das Gelächter der Männer mit ein und schlug die Augen nieder. Dicht gefolgt von Collyn trat sie in die kleine Zelle. Sie blieb stehen, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Erst dann sah sie sich um.
Auf den ersten Blick schien der winzige Raum leer zu sein. Aber dann erkannte sie, dass das, was sie für ein Bündel Lumpen gehalten hatte, in Wirklichkeit ein lebendes Wesen war. Vorsichtig trat sie näher und schließlich kniete sie sogar vor dem Elfen nieder. Dennoch war es unmöglich, sein Aussehen genau zu erkennen. Das Einzige, was sie klar sehen konnte und woran sie sich immer erinnern würde, waren seine Augen, blaue, fiebrig glänzende Augen, die direkt durch sie hindurchzusehen schienen, ohne sie wahrzunehmen.
„Wir sind gekommen, um dich zu befreien“, sagte sie leise und unsicher, ob er sie verstand. Zwar beherrschte sie die Sprache von Anoria, doch sprach sie mit einem starken Akzent. „Hörst du mich?“
Plötzlich richtete er seinen Blick auf ihr Gesicht: „Wer bist du?“, er brachte die Worte nur mühsam hervor.
„Mein Name ist Rowena“, erleichtert sprang sie auf, „steh auf, wir müssen von hier verschwinden.“
Nach zwei vergeblichen Versuchen half sie ihm beim Aufstehen. Der Elf war ein gutes Stück größer als sie, dabei aber so abgemagert, dass er kaum allein aufrecht stehen konnte. Rowenas letzte Hoffnungen schwanden.
In diesem Moment trat Collyn, der bisher an der Tür gelauscht hatte, vor: „Hier“, er zog einen Mantel ähnlich seinem eigenen hervor, „zieh das an. Wie heißt du?“
„Pierre“, er zog eine Grimasse, die in besseren Zeiten sicherlich ein Lächeln dargestellt hätte. Langsam schien er seine Kraft zu sammeln und er wirkte jetzt wacher: „Wie genau habt ihr euch unsere Flucht vorgestellt?“
Mit Rowenas Hilfe gelang es ihm, den schwarzen Mantel anzuziehen. Voller Ungeduld sah ihm Collyn zu.
„Zwei Wächter stehen vor der Tür. Wir müssen sie ausschalten. Trotzdem werden sie wissen, dass ein Fluchtversuch stattfindet, sobald wir die Zelle verlassen. Aber wir werden einen kleinen Vorsprung haben. Rowena und du, ihr werdet so schnell wie möglich zum Boot rennen und von hier verschwinden. Ich bleibe zurück und halte sie
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