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Das Vermächtnis der Montignacs

Das Vermächtnis der Montignacs

Titel: Das Vermächtnis der Montignacs Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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tragen.

6
    Er entdeckte sie auf dem Dachgarten, wo sie saß und in einem Reiseführer über Amerika las. Für die Jahreszeit war es noch einmal ein überraschend schöner warmer Tag geworden, und sie trug ein leichtes Kleid und eine Sonnenbrille. Auf dem Tisch neben ihr stand ein Glas Weißwein. So also sah eine Frau aus, die keine Sorge hatte. Sie schien regelrecht zu glänzen und war die schönste Frau, die Montignac je gesehen hatte. Aus einer Laune heraus besann er sich wieder auf das Spiel aus ihren Kindertagen, blieb für einen Moment reglos stehen und stampfte dann laut mit dem Fuß. Stella schreckte zusammen, ließ ihr Buch fallen und schrie auf.
    Â»Hallo«, murmelte er kaum hörbar.
    Sie sah ihn an und lachte gezwungen. »Ich habe dich nicht kommen hören.« Sie hob ihr Buch auf. »Ich war wohl in einer Art Trance.«
    Â»Ich habe den Mittagszug genommen.« Er ließ sich ihr gegenüber nieder und wünschte, er hätte seine Sonnenbrille dabei, nicht wegen der Sonne, sondern um ihr den Vorteil zu nehmen, seine Augen sehen zu können, wohingegen er ihre nicht sehen konnte. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr.
    Â»Hatte der Zug Verspätung? Als du um halb drei noch nicht hier warst, dachte ich, du würdest nicht mehr kommen.«
    Â»Ich wurde aufgehalten.« Er wollte ihr nicht erklären, warum er den Zug vorzeitig verlassen und die letzten sechs Meilen zu Fuß gelaufen war.
    Â»Egal, jetzt bist du ja hier. Möchtest du ein Glas Wein?« Sie hob die Flasche und deutete auf das Glas, das sie für ihn bereitgestellt hatte. Er nickte, und sie schenkte ihm ein. Er kostete den Wein und behielt ihn einen Moment im Mund, ehe er ihn hinunterschluckte. »Er ist aus Vaters Weinkeller«, erklärte sie, als sie seine beeindruckte Miene sah. »Ich habe beschlossen, etwas von dem Vorrat zu probieren, ehe der Wein schlecht wird. Da unten liegen so viele Flaschen, dass ich sie gar nicht zählen konnte. Einige stammen noch aus der Zeit unseres Urgroßvaters.«
    Â»Es sind an die viertausendfünfhundert«, sagte er, was sie zu überraschen schien.
    Â»Wirklich?«
    Â»Ja, wirklich. Abzüglich derer, die du inzwischen getrunken hast.«
    Â»Keine Sorge, es waren nicht viele. Wie war die Fahrt?«
    Aber Montignac war nicht in Stimmung, Höflichkeitsfloskeln zu tauschen. »Du hast mich doch sicher nicht hierhergebeten, um über meine Zugfahrt zu sprechen.«
    Â»Nein.«
    Â»Wie ist es dir ergangen«, lenkte er ein, um nicht von Anfang an aggressiv zu wirken. »Ich dachte, du würdest die Woche in London verbringen.«
    Â»Um an der Gerichtsverhandlung teilzunehmen?« Stella schüttelte den Kopf. »Ich hatte daran gedacht, aber dann erschien es mir sinnlos. Er wird doch sowieso schuldig gesprochen.«
    Â»Ich fürchte, ja.«
    Â»Was soll das heißen, du fürchtest?«
    Â»Es heißt, dass es für alle Beteiligten eine Tragödie ist. Für Raymonds Familie, Gareths Familie, für Gareth. Und für dich.«
    Â»Und für Raymond«, ergänzte Stelle schroff. »Ihn sollten wir nicht vergessen. Er war schließlich das Opfer, oder weißt du das nicht mehr?«
    Â»Doch, natürlich«, versicherte er eilig. »Ich meinte, einschließlich Raymond.«
    Â»Was deinen jungen Freund betrifft, hält sich mein Mitleid wohl eher in Grenzen.«
    Â»Er ist nicht mein Freund , Stella. Er hat lediglich für mich gearbeitet. Und das nicht einmal sehr lange.«
    Â»Ja, ich weiß. Entschuldige, Owen, ich wollte dir nichts unterstellen. Woher hättest du wissen sollen, dass sich so etwas daraus ergibt. Zumal er aus einer guten Familie kommt.«
    Â»Hatte ich dir schon erzählt, dass ich meine Wohnung am Bedford Place aufgebe?«
    Â»Nein«, entgegnete sie erstaunt, denn dort wohnte er seit vier Jahren, und die Wohnung war hübsch und gut gelegen. »Wann hast du das beschlossen?«
    Â»Vor etwa einer Woche. Ende des Monats ziehe ich aus. Ich kann dort nicht mehr wohnen. Nach allem, was sich dort abgespielt hat, scheint es mir unpassend.«
    Stella war gerührt und musste sich beherrschen, seine Hand nicht zu nehmen und zu drücken. »Das ist sehr feinfühlig von dir«, sagte sie. »Weißt du schon, wohin du ziehst?«
    Â»Nein, darum muss ich mich leider noch kümmern.«
    Ihr kam ein Gedanke. »Wie wäre es denn mit Vaters Wohnung in Kensington?

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