Das Vermächtnis der Montignacs
deren Seite niederlieÃ. Unter ihnen nahm die Schar der Gerichtsreporter, Staatsanwälte, Verteidiger und Polizisten ihre Plätze ein, als wären sie Schauspieler in einem Stück, bei dem sich gleich der Vorhang heben würde und das Publikum bereits gespannt auf die Vorstellung wartete. Diejenigen, die frühzeitig erschienen waren, hatten sich Sitzplätze in den vordersten Reihen sichern können. Es fehlte lediglich die Platzanweiserin, die sich mit einem Tablett voller Eiscremepackungen durch die Reihen schlängelte, und die Töne der Geigen, die in einem Orchestergraben gestimmt wurden.
»Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen.« Eleanor hatte ihre Handtasche von dem frei gehaltenen Platz genommen und vor sich auf den Boden gestellt. »Ich wusste nicht, wie lange ich dir den Platz noch reservieren könnte, aber dann dachte ich, dass du dir das hier niemals entgehen lässt.«
»Wie könnte ich«, entgegnete Jane. »Jeder wird heute hier sein, das habe ich vorhin noch zu Roderick gesagt.«
»Nicht jeder«, bemerkte Eleanor mit vielsagendem Lächeln. »Bei manchen fällt die Abwesenheit sogar auf.«
»Meinst du den König? Und den Herzog von York?«
»Unter anderem. Sie halten sich heraus.«
»Ist das als Vorwurf gemeint?«, erkundigte sich Jane. »Der Ãrmste sitzt doch erst seit wenigen Monaten auf dem Thron. Und ständig wird über diese Amerikanerin gelästert, mit der er sich trifft. Und jetzt auch noch das. Ein Mörder in der Familie. Ein sehr verheiÃungsvoller Auftakt ist das für ihn nicht. Man fragt sich, was dann die kommenden vierzig Jahre bringen werden.«
»Ein merkwürdiges Geschlecht, das ist jedenfalls meine Meinung.«
»Die Windsors?«
»Wer denn sonst? Wie es heiÃt, könnte Prinz Albert, der Mann von Königin Victoria, sogar Jack the Ripper gewesen sein. Mit anderen Worten, der UrgroÃvater des jetzigen Königs.«
»Das sind doch nur Spekulationen.« Jane lachte. Sie las nicht so viele Detektivgeschichten wie ihre Freundin. »Mir kommt das eher unwahrscheinlich vor.«
»Es gibt ja auch einen Unterschied«, sagte Eleanor. »Der Ripper hat Huren umgebracht. Der neue König dagegen hat eine von ihnen zu seiner Geliebten gemacht.«
Jane musste ein Kichern unterdrücken. »Eleanor, bitte. Man könnte dich hören.«
»Seiâs drum«, erwiderte Eleanor. »Ich finde, man weià kaum noch, wem man trauen kann. Aber dieser Junge, dieser Domson, der sieht dem verstorbenen König ähnlich, meinst du nicht? Da ist so etwas um die Augen.«
Jane zuckte mit den Schultern. »Von Nahem habe ich ihn noch nie gesehen. Nur auf Fotos.«
»Ich war jeden Tag hier«, sagte Eleanor. »Nicht ein Wort ist mir entgangen. AuÃer der Verhandlung hat es für mich in den letzten Monaten gar nichts anderes mehr gegeben. Und Roderick war fabelhaft.« Jane lächelte und quittierte das Kompliment, indem sie den Kopf leicht zur Seite neigte. »Wahrscheinlich darfst du mir vorher nicht sagen, wie sein Urteil ausfallen wird, oder?«
»Leider nicht.«
»Aber er wird es doch in wenigen Minuten verkünden. Und es ist ja auch niemand da, dem ich es weitererzählen könnte.«
»Tut mir leid, aber die Antwort ist: Nein. Gewisse Geheimnisse zwischen Eheleuten müssen geheim bleiben.« Zu ihrem Bedauern wusste ja auch Jane nicht, ob ihr Mann den Jungen zu lebenslänglicher Haft in Brixton oder dem Gang zum Galgen verurteilen würde. »Was wäre ich denn für eine Ehefrau, wenn ich so etwas preisgeben würde.«
Der Fall Rex gegen Domson hatte vor sechs Monaten begonnen. Dabei ging es um einen Einbruch in das Lager einer Schmuckfabrik an der London Bridge, den die Polizei vereitelt hatte. Domson war der Kopf der Bande. Wären er und seine Leute erfolgreich gewesen, hätten sie Diamanten und andere Juwelen im Wert von fast zweihunderttausend Pfund Sterling gestohlen. Aber einer der Diebe hatte zuvor seine Zunge spazieren geführt, sodass die Polizei noch am Abend des Verbrechens einen Hinweis erhalten hatte. Drei von Domsons Komplizen wurden vor Ort festgenommen, doch er selbst konnte fliehen. Die Polizisten verfolgten ihn durch das Hafengelände, ehe er von zweien hinter einem Lastwagen in die Enge getrieben wurde. Als die beiden ihn festnehmen wollten, zog er eine Waffe aus der Jackentasche und
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