Das Vermächtnis der Montignacs
Raymond.
»Er hat in Cambridge Kunstgeschichte studiert. Das Grundstudium hat er mit sehr gut abgeschlossen und seinen Magister danach in Rekordzeit geschafft. Seitdem arbeitet er in London in einer Kunstgalerie. Die Werke dort sind sehr modern, und mein Vater hält sie natürlich für grässlich. Die Galerie zeigt nämlich nichts, was vor dem Jahr 1900 entstanden ist.«
»Ach«, sagte Raymond erstaunt, »sind in den letzten dreiÃig Jahren denn überhaupt nennenswerte Kunstwerke entstanden?«
»Nicht ein Einziges.« Stella brach in Gelächter aus. »Es ist alles Schund. Aber ich finde es lustig, mir die ausgestellten Stücke anzusehen. Jeder hat Angst, sie zu kritisieren, denn niemand möchte altmodisch wirken. Deshalb werden diese scheuÃlichen Gemälde zu den aberwitzigsten Preisen verkauft, und ich könnte mir denken, mein Cousin streicht recht ordentliche Kommissionen ein. Natürlich macht er es nicht wegen des Geldes, das wäre ihm zu vulgär. Ich glaube, er mag seinen Beruf. Jedenfalls wirkt er engagiert.«
»Trotzdem brauchen wir alle Geld«, sagte Raymond.
»Owen nicht. Eines Tages erbt er das gesamte Vermögen der Montignacs. Es geht immer nur an die männlichen Mitglieder unserer Familie, schon seit ewigen Zeiten. Eine Frau kommt dafür nicht infrage, so sexistisch das auch ist. Natürlich hätte alles Andrew gehört â aber er ist tot, und seitdem gilt Owen als der nächste Erbe. Sein Vater war der ältere Bruder meines Vaters, doch er wurde nach einem Skandal enterbt. Das war noch vor meiner Geburt. Er ist im Krieg gefallen, und meinem Vater blieb nichts anderes übrig, als seinen Sohn aufzunehmen. Inzwischen hat er ihn ins Herz geschlossen.«
Raymond nickte. Zwar interessierten ihn die Erbschaftsangelegenheiten der Montignacs nicht sonderlich, aber er fand es schön, Stella beim Reden zu beobachten und einen triftigen Grund zu haben, sie unverwandt anzusehen. Wie gewöhnlich hatte sie nur wenig Make-up aufgetragen, sodass ihr Teint wie Porzellan schimmerte und er die Hand ausstrecken und ihr Gesicht berühren wollte, so wie man in einem Stoffgeschäft den Wunsch hat, über eine Bahn aus Satin zu streichen. Stella warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster, dann wandte sie sich wieder zu ihm um. Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen, als sei sie dabei, eine Entscheidung zu treffen.
»Ich finde, wir sollten uns häufiger treffen«, verkündete sie entschlossen. Raymond nickte eifrig, und schon war die Sache abgemacht.
In den folgenden achtzehn Monaten waren sie offiziell zu einem Paar geworden. Die meiste Zeit verbrachten sie in London, wo Stella tagsüber das unbeschwerte Leben einer Frau mit viel MuÃe führte. Abends gingen sie mit Freunden ins Theater oder in Restaurants. Hier und da â wann, das konnte Raymond nie vorhersagen â lud Stella ihn anschlieÃend in ihre Suite ein, wo sie sich derart leidenschaftlich liebten, dass er nie begriff, warum er am nächsten Morgen so eilig entlassen wurde. Zwar war sie nicht die erste Frau in seinem Leben, aber eine andere konnte er sich nicht mehr vorstellen, trotz der emotionalen Distanz, die zwischen ihnen stand wie eine Mauer, über die sie ihn nicht steigen lieÃ.
»Ich spreche nicht gern über Liebschaften«, hatte sie ihm einmal erklärt. »Das habe ich einmal getan, vor langer Zeit, und es hätte mich beinah umgebracht. Buchstäblich.«
Seinerzeit hatte er versucht, mehr über diese frühere Geschichte zu erfahren, war jedoch auf Schweigen gestoÃen. Seitdem hatte er keinen Vorstoà mehr gewagt.
Am schlimmsten waren für ihn die seltenen Wochenenden, an denen er nach Leyville eingeladen wurde. Peter Montignac begegnete ihm zwar einigermaÃen höflich, der Form halber, doch darüber hinaus schien ihn Raymonds Leben nicht im Geringsten zu interessieren. Mitunter bot Raymond ein Gesprächsthema an, aber es war jedes Mal zwecklos, Peter Montignac ging auf keines von ihnen ein. Owen Montignac wiederum, der anfangs die Kälte eines Eisbergs ausgestrahlt hatte, taute mit der Zeit ein wenig auf, doch Raymond wusste, dass er, Owens Meinung nach, für Stella nicht gut genug war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit spottete Owen über Raymonds Beruf und schien dabei zu vergessen, dass man ihn selbst auch nicht unbedingt als Mann des Militärs bezeichnen konnte. Alles in
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