Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
noch erlebe. Seien Sie unbesorgt, ich habe es gut gehütet. All die Jahre lang.«
»Was?«, fragte Sir Walter und legte wissbegierig den Kopf schief. »Was haben Sie gehütet?«
»Wollen Sie mich immer noch auf die Probe stellen?« Er lachte heiser und freudlos. »Nachdem ich so viel für Sie getan habe? Nachdem ich es all die Jahre bewacht habe? Habe ich noch immer nicht genug getan, um Ihr Vertrauen zu rechtfertigen?«
»Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, mein Freund«, gestand Sir Walter, worauf der Greis sowohl ihn als auch seine Begleiter noch einmal argwöhnisch beäugte.
»Wer sind Sie?«, wollte er wissen.
»Mein Name ist Quentin Hay«, stellte sich Quentin rasch vor, um seinen Onkel nicht in die Verlegenheit zu bringen, den alten Mann belügen zu müssen. »Dies sind meine Frau Mary und mein Onkel. Dieser Gentleman dort ist Mr. Winston McCauley, ein Gast der Royal Academy von Edinburgh.«
Hätte er Chinesisch gesprochen, die Verwirrung des Greises hätte kaum größer sein können.
»Ihr … Ihr Name ist nicht Stewart?«, fragte er.
»Ich fürchte, nicht.«
»Aber … wie kommen Sie dann zu dem Schlüssel?«, wollte er wissen. »Und wie konnten Sie das Rätsel lösen?«
»Dabei ist uns wohl der Zufall zu Hilfe gekommen«, antwortete Sir Walter bescheiden. »Aber wir haben allen Grund zu der Annahme, dass auch noch jemand anders danach trachtet, das Geheimnis zu enthüllen – jemand, der vor Mord nicht zurückschreckt.«
»Das sind sie «, entgegnete der Alte tonlos. Seine faltigen Züge verzerrten sich vor Entsetzen. »Ich wusste es … wusste, dass sie niemals aufgegeben haben!«
»Wer?«, fragte Quentin stirnrunzelnd.
»Die Verräter!«, gab der Alte zur Antwort, als würde das alles erklären, um dann erschrocken hinzuzufügen: »Gehören Sie auch zu ihnen?«
»Nein«, versicherte Sir Walter und hob beschwichtigend die Hände. »Wir sind nur an Aufklärung interessiert. Wir wissen nichts von diesen Dingen.«
»Es ist viel Zeit vergangen«, bestätigte der Alte nickend. »Viel Zeit …« Er starrte düster vor sich hin, während er einen Augenblick nachzudenken schien. Dann erhob er sich schwerfällig und trat an eine grob gezimmerte Truhe. Statt sie zu öffnen, schickte er sich an, sie beiseitezuschieben, was ihm aufgrund seines Alters und seiner nachlassenden Kräfte jedoch nicht gelang. Quentin und McCauley gingen ihm rasch zur Hand. Kaum stand die Truhe nicht mehr an ihrem Platz, ließ sich der Greis stöhnend auf die Knie nieder – und öffnete, sehr zum Erstaunen der Besucher, ein zwischen den schäbigen Dielen verborgenes Fach.
Sir Walter, Quentin und Mary tauschten Blicke. Würden sie nun endlich den Grund für all die Geheimnisse erfahren?
Der Alte streckte die rechte Hand aus, und Quentin half ihm dabei, sich wieder zu voller Größe aufzurichten. In seiner Linken hielt der Mann einen kleinen Köcher aus Leder, der mit Wachs versiegelt war.
»Was ist das?«, erkundigte sich Sir Walter vorsichtig.
»Nehmen Sie es«, entgegnete der Greis, »ich habe es lange genug gehütet.« Noch einen Augenblick wog er es in seiner schwieligen Pranke. Dann streckte er es Sir Walter hin. Dabei glitt der Ärmel seiner schäbigen Jacke zurück und entblößte eine alte Narbe, die sich vom Handgelenk bis zum Ellbogen über den Unterarm zog.
In diesem Moment überstürzten sich die Ereignisse.
McCauley, der bislang kein Wort gesagt hatte, holte scharf Luft, dann sprang er auch schon vor.
»Mörder!«, brüllte er aus Leibeskräften, und noch ehe die anderen begriffen, hatte er seine Waffe gezückt und feuerte.
Der Schuss krachte.
Die aus nächster Nähe abgefeuerte Kugel traf den greisen Hünen in den Bauch, dennoch blieb er weiter stehen, unverrückbar wie ein Fels, während der Blick seiner Augen starr wurde und sein schäbiges Hemd sich blutrot färbte. Ein gellender Schrei entfuhr Mary, während McCauley vorstürmte und dem Getroffenen Schlüssel und Köcher entriss. Und indem er das Entsetzen und die Verwirrung nutzte, war er im nächsten Moment auch schon zur Tür hinaus.
»Worauf wartest du? Ihm nach!«
Erst Sir Walters Ruf riss Quentin aus der Schockstarre, in die er verfallen war. Rasch fuhr er herum und rannte McCauley hinterher, während der getroffene Hüne niederging. Mit dumpfem Schlag brach er in die Knie, und hätten Sir Walter und Mary ihn nicht aufgefangen, wäre er mit dem Gesicht voraus auf die Dielen geschlagen. Vorsichtig betteten sie ihn zu Boden, dann
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