Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
tonlos. »Kurz bevor Walter starb.«
»Richtig. Schon damals sagte ich Ihnen, dass es auch andere Wege gibt, Ihren Verbindlichkeiten nachzukommen.«
»Ich erinnere mich«, versicherte Ballantyne. »Und ich habe auch versucht, Walter davon zu überzeugen, dass die Liquidierung seines Grundbesitzes der einzig gangbare Weg sei, aber er wollte nichts davon hören. Er setzte den Verkauf von Abbotsford mit dem Verrat an den schottischen Traditionen gleich und versicherte, dass er einen Plan hätte, wie er das Unternehmen retten wolle.«
»Ich verstehe.« Chamberlain straffte sich unter dem Mantel, während er die Arme vor der Brust verschränkte und kritisch auf Ballantyne herabsah. »Und wo ist nun dieser Plan? Wie sieht er aus?«
»Ich … weiß es nicht.« Ballantyne schüttelte den Kopf. »Er starb, noch ehe er es mir mitteilen konnte.«
»Nun, in diesem Fall denke ich, Sie sollten sich an Scotts Nachkommen wenden. Vielleicht zeigen sich seine Witwe und sein ältester Sohn ja einsichtig.«
»Lady Charlotte kann nichts unternehmen, solange Walters Testament nicht verlesen ist. Und dies wiederum kann erst geschehen, wenn sein Neffe Quentin Hay eingetroffen ist, der vor einigen Jahren nach Übersee ausgewandert ist.«
»In die Kolonien?« Chamberlain hob missbilligend eine Braue.
»Quentin wurde über das Ableben seines Onkels in Kenntnis gesetzt, und wie ich den Jungen kenne, wird er es als seine Pflicht betrachten, Walter die letzte Ehre zu erweisen. Die beiden standen einander sehr nah.«
»Und?«, raunzte der Anwalt ungeduldig.
»Sobald Quentin eingetroffen ist, wird Walters Testament verlesen. Dann werden sich die Besitzverhältnisse klären, und wir können über den Verkauf von Abbotsford verhandeln.«
»Da gibt es nichts zu verhandeln«, stellte Chamberlain klar, »und die Besitzverhältnisse sind ebenfalls bereits geklärt. Abbotsford mit all seinen Trakten und Türmen gehört den Leuten, bei denen Walter Scott und Sie sich verschuldet haben. Sagen Sie das dem Neffen, wenn Sie ihn sehen.«
»Das werde ich schon bald, davon bin ich überzeugt«, versicherte Ballantyne. »Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Quentin Ihrem Vorschlag folgen wird. Er neigt zu einer gewissen Starrköpfigkeit, genau wie sein Onkel.«
»So? Dann sagen Sie ihm, dass er nicht vergessen soll, dass es meine Investoren waren, die die Firma vor dem Bankrott gerettet haben.«
»Durchaus.« Ballantyne nickte. »Und Sie sollten nicht vergessen, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut kein Gegenstand ist, den man nach Belieben verwenden und dann wieder zur Seite legen kann. Es folgt seinem eigenen Willen – das gilt für Pferde gleichermaßen wie für Menschen.«
»Glauben Sie?« Chamberlain, der sich wieder der Senke zugewandt hatte und den Endspurt der beiden verbliebenen Kontrahenten verfolgte, schüttelte den Kopf. »Täuschen Sie sich nicht, Ballantyne. Bislang habe ich noch immer bekommen, was ich wollte.«
Die Pferde hielten auf die Zielgerade zu.
Der Schecke hatte noch einmal aufgeholt, befand sich jetzt gleichauf mit dem Vollblut, dessen schlanke Fesseln den Boden kaum noch zu berühren schienen. Noch nie zuvor hatte Ballantyne ein Pferd schneller laufen sehen. Auf donnernden Hufen flog es dahin, und nur wenige Yards vor der Ziellinie machte es einen Satz nach vorn und schob sich an seinem Gegner vorbei.
Der Sieg gehörte Mark of Runes.
»Wie ich soeben sagte«, kommentierte Chamberlain mit selbstzufriedenem Lächeln. »Noch immer.«
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6
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Florenz
Juli 1784
Fünf Wochen waren vergangen.
Fünf Wochen, die Serena in den Diensten ihres neuen Herren, des Dukes von Albany, verbrachte hatte, ohne ihn je zu Gesicht zu bekommen.
Der warnenden Worte seiner Tochter eingedenk, die, wie Serena inzwischen wusste, den Namen Charlotte trug und nicht nur an großer Schwermut zu leiden schien, sondern auch an einer angeschlagenen Gesundheit, hatte sich Serena von den oberen Stockwerken ferngehalten; die Küche des Hauses war ihr Reich, das sie nur verließ, um auf dem nahen Markt einzukaufen oder sich in ihrer im Gesindetrakt befindlichen Kammer schlafen zu legen. Das Servieren der Speisen übernahmen die Diener, allen voran der schweigsame Manus, ein wahrer Bär von einem Mann, der der Duchess und ihrem Vater treu ergeben schien. Anders als den übrigen Bediensteten, zu denen neben Serena selbst noch die Köchin, zwei Zofen, ein Kutscher, ein Stallbursche sowie der habichtsnasige Majordomus gehörten, war es Manus
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