Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
gestattet, sich im ersten Stock aufzuhalten – ein Privileg, um das die anderen Diener ihn offenkundig beneideten. Nicht so Serena, die sich zum ersten Mal nach langer Zeit wieder glücklich wähnte.
Glücklich darüber, der drückenden Enge ihres Dorfes entkommen zu sein, glücklich darüber, sich der Nachstellungen ihres Onkels nicht länger erwehren zu müssen. Glücklich darüber, ein unabhängiges Leben führen zu können, auch wenn es das einer Dienstmagd war.
Ihre unmittelbare Vorgesetzte in der Küche war Signora Ginesepina, eine ebenso beleibte wie resolute Frau in den Fünfzigern, die aus Kampanien stammte und kein Wort Englisch sprach, was Serena immer wieder in die Verlegenheit brachte, zwischen ihr und der Duchess vermitteln zu müssen. Die Blicke, mit denen Ginesepina sie dabei bedachte, verrieten deutlich, dass die Köchin ihrer Übersetzung misstraute. Überhaupt schien sie ihr ablehnend gegenüberzustehen, jedenfalls hatte sie in den fünf Wochen, in denen Serena nun für sie arbeitete, noch nicht ein einziges lobendes oder auch nur freundliches Wort für sie gefunden. Dafür hielt sie um so mehr Arbeit bereit, die Serena jedoch stets fleißig und ohne Murren erledigte.
»Noch mehr davon«, knurrte die Köchin mit Blick auf den recht ansehnlichen Berg von Zwiebeln, die Serena bereits geschält und geschnitten hatte – ihre feuerroten Augen legten davon ein beredtes Zeugnis ab. »Die Herrschaften erwarten heute Abend Besuch, und ein Risotto à la Ginesepina ohne Zwiebeln ist wie eine Nacht ohne Sterne.«
»Besuch?«, fragte Serena, die vor ihr auf einem Schemel kauerte und sich mit dem Handrücken über die brennenden Augen wischte, wodurch es allerdings nur noch schlimmer wurde. »Schon wieder?«
»Dumme Gans, glaubst du, der Herzog ist uns Rechenschaft schuldig? Alles, was wir zu wissen brauchen, ist, dass es acht Personen sind. Und dass sie von weit her kommen und die Duchessa deshalb eine sättigende Mahlzeit wünscht.«
»Von weit her?«, hakte Serena nach.
»So hieß es«, erwiderte die Köchin lakonisch, während sie die Pfanne fettete. »Haben hier in der Stadt wohl Geschäfte zu tätigen.«
»Was denn für Geschäfte?«
Ginesepina ließ die Pfanne sinken. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihr dabei. »Wenn du nicht damit aufhörst, mir andauernd Fragen zu stellen, wirst du nicht lange hier sein, Mädchen.«
»Verzeihung«, sagte Serena schnell. Die Aussicht, entlassen zu werden, erschreckte sie.
»Steck deine Nase nur in die Angelegenheiten, die dich etwas angehen, sonst kann es sein, dass sie dir irgendwann fehlt. Du wärst nicht die Erste.«
»Was?« Serena hielt in ihrer Arbeit inne und schaute auf. »Was soll das heißen?«
Die Köchin erwiderte ihren Blick. Ihre ohnehin meist puterroten Züge schienen noch ein wenig dunkler geworden zu sein. Sie wirkte erschrocken, als hätte sie etwas gesagt, das sie eigentlich nicht sagen wollte. »Nichts weiter«, blaffte sie. »Mach lieber mit deiner Arbeit weiter, statt mir dumme Fragen zu stellen. Jeder von uns Bediensteten weiß, dass das in diesem Haushalt nicht erwünscht ist. Die Duchessa mag das nicht.«
»Wegen ihres Vaters«, vermutete Serena, während sie die tränenreiche Arbeit wieder aufnahm.
»Möglich.« Ginesepina griff nach dem Huhn, das es zu rupfen galt, eine Aufgabe, die sie stets persönlich übernahm.
»Sind Sie jemals oben gewesen?«, fragte Serena, der eben ausgesprochenen Warnung zum Trotz. »Im ersten Stock, meine ich.«
Es gab ein sattes, ratschendes Geräusch, als die Köchin das erste Federbüschel ausriss, gefolgt von einem unwilligen Zischen. »Habe ich dir nicht gerade gesagt, dass du das Fragen lassen sollst?«
»Entschuldigung, ich …«
»Nein, ich bin noch niemals oben gewesen! Wieso auch? Es gibt dort nichts, das mich etwas anginge – und dich ebenfalls nicht, du mageres junges Ding!«
»Ich weiß«, versicherte Serena. »Aber seltsam ist es doch.«
»Was?«, kam die Frage zwischen zwei weiteren Federbüscheln.
»Diese Besuche – sie kommen stets erst nach Einbruch der Dunkelheit und pflegen bis spät in die Nacht zu bleiben.«
»Und?«
»Vielleicht weiß Manus ja mehr darüber«, rätselte Serena. »Er ist der Einzige von uns, der die Treppe passieren darf. Vielleicht kann er uns ja etwas sagen von dem, was dort oben …«
»Nein«, sagte Ginesepina nur.
»Wie bitte?«
»Untersteh dich!« Die Köchin drehte ihren kurzen, kaum vorhandenen Hals nach der Tür, als wollte sie sich
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