Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
sie, dass es aus dem Schacht rührte, der inmitten des Gewölbes in den Boden eingelassen und mit einem Eisenrost vergittert war; darunter floss ein unterirdischer Nebenarm des Flusses.
Wozu dieser Schacht dienen mochte, ob er eine Art Kanal darstellte oder in alten Tagen womöglich als Fluchtweg gedient hatte, darüber konnte Serena nur spekulieren, und eigentlich war es ihr einerlei. Sie war nur froh, dass das unheimliche Geräusch eine solch harmlose Ursache hatte.
Mit den beiden Gefäßen auf dem Arm ging sie zurück zur Tür. Im Vorbeigehen warf sie einen missbilligenden Blick in das dunkle Loch, das sie schon einmal so erschreckt hatte, und für einen Moment fiel der Kerzenschein auf das dunkle Wasser, das nur wenige Ellen unter dem Gitter dahinfloss, …
… und riss die Gesichtszüge eines Mannes aus der Dunkelheit!
Serena erstarrte.
Die Weinflasche entwand sich ihrem Griff, schlug zu Boden und ging klirrend zu Bruch, aber Serena nahm es nicht einmal wahr.
Unfähig, einen weiteren Schritt zu tun oder auch nur zu schreien, stand sie da. Entsetzen legte sich mit klammen Händen um ihren Hals und würgte sie, sodass ihr übel wurde und sie keine Luft mehr bekam, während sie weiter auf das bleiche, reglose Gesicht starrte, das ihr von unten entgegenblickte.
Es war nicht das erste Mal, dass Serena einen Toten sah, aber dieser hier war anders. Seine Züge waren schwammig und aufgedunsen, und das Wasser, das ihn überspülte, sorgte dafür, dass er auf grausige Weise lebendig wirkte.
Und das war noch nicht alles.
Serena kannte den Mann!
Es war einer der Franzosen, die den Palazzo in letzter Zeit häufig besuchten, und sie war sicher, ihn erst vor wenigen Tagen gesehen zu haben. Seiner blauen Kleidung wegen war er ihr aufgefallen, die er auch jetzt noch trug und die ihn in der Strömung wie ein Totenschleier umwölkte.
Blau.
Die Farbe der Freiheit.
Die Farbe der Revolution.
Jäh wurde Serena bewusst, dass sie noch immer dort stand, den Kerzenleuchter in der einen und das eingelegte Gemüse in der anderen Hand, zu ihren Füßen die geborstene Flasche. Unwillkürlich wich sie vom Rand des Schachts zurück, und im nächsten Moment beherrschte sie nur noch ein Gedanke.
Flucht!
Sie fuhr herum, stürzte Hals über Kopf aus dem Gewölbe und zurück durch den Gang, hastete die ungleichen steinernen Stufen hinauf und wäre um ein Haar gestürzt – wäre sie nicht gegen eine große dunkle Gestalt gelaufen.
»He!«, rief eine Stimme, die Serena nur zu bekannt vorkam. »Hast du jetzt völlig den Verstand verloren? Was ist los mit dir, du ungeschicktes dürres Ding?«
Serena stand nur da und starrte. Wie aus Nebeln tauchte Ginesepinas ebenso rundes wie rotes Gesicht vor ihr auf.
»Wo bleibst du denn?«, herrschte die Köchin sie an. »Muss ich alles selber machen? Und wo ist der Wein, den du mitbringen solltest? Ist dein Spatzenhirn denn zu gar nichts nütze?«
Serena blickte sie weiter an. Trotz der Schimpfkanonade, die über sie hereinbrach, war sie froh, der Köchin zu begegnen. Alles in ihr drängte sie dazu, Ginesepina zu berichten, was sie unten im Keller entdeckt hatte, ihr den Leichnam zu zeigen, der dort unten im Wasser lag – aber trotz des Entsetzens, das sie noch immer in seinen Klauen hielt, tat sie es nicht.
Keine Fragen, schoss es ihr durch den Kopf.
Fragen waren im Palazzo unerwünscht.
»Bitte verzeihen Sie«, sagte Serena deshalb mit unterwürfig gesenktem Haupt. »Das Geräusch aus dem Loch hat mich erschreckt. So sehr, dass ich den Wein habe fallen lassen.«
»Und das sagst du dummes Ding mir einfach so ins Gesicht?« Unter Ginesepinas feisten Wangen mahlte es. »Du kriegst heute und morgen nichts zu essen. Und deine freie Stunde am Sonntag ist gestrichen!«
»Verstanden«, sagte Serena nur.
»Und jetzt geh und hol eine neue Flasche.«
»Nein.« Serena schüttelte den Kopf.
»Was soll das heißen?«
»Ich möchte nicht mehr dort hinunter«, bekräftigte Serena, von Grauen geschüttelt. »Niemals wieder.«
»Ist das dein letztes Wort?«
Serena nickte.
»Wie du willst.« Ginesepina riss ihr den Kerzenleuchter aus der Hand. »Du wirst schon sehen, was du von deiner Sturheit hast. Die Duchessa wird alles von mir erfahren.«
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11
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Atlantischer Ozean
29. Januar 1826
»Nein!«
Mit einem Aufschrei fuhr Mary aus dem Schlaf.
Ihr ganzer Körper zitterte, ihr Nachtgewand und ihr Haar klebten schweißdurchtränkt an ihr. Gehetzt sah sie sich um, brauchte einige
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