Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
energischer, und sich die Reihen der Männer lichteten, konnte Quentin erkennen, was für solchen Aufruhr gesorgt hatte – und erlebte eine Überraschung.
Im vordersten Winkel des Bugs, wo die hohe Back und herabhängende Taue eine Art Höhle bildeten, kauerte eine Gestalt. Wenig mehr als die Beine waren zu sehen, die in weiten, verdreckten Seemannshosen steckten. Der Rest war in Dunkelheit verborgen. Jeffrey Pine, der Erste Offizier der Fairy Fay , kauerte vor der Höhle und sprach leise hinein.
»Meine achtundsechzigste Atlantikfahrt«, knurrte Kapitän McCabe grimmig, als er Quentins verwirrten Blick bemerkte. »Noch nie ist es jemandem gelungen, sich an Bord meines Kahns zu schleichen. Und nun das.«
»Ein … ein blinder Passagier?«, fragte Quentin.
McCabe nickte. »Einer meiner Jungs hat ihn entdeckt. Der Klabautermann weiß, wie wir das übersehen konnten.«
»Und nun? Werden Sie ihn bestrafen?«
»Wenn das doch nur möglich wäre.« McCabe verdrehte die Augen und sog an der Pfeife, die wie immer aus seinem Mundwinkel ragte.
»Was soll das heißen?«
McCabe zog es vor zu paffen, statt zu antworten, und deutete auf die Höhle im Bug, wo Pine noch immer versuchte, den blinden Passagier zum Verlassen des Verstecks zu überreden. Ohnehin wunderte es Quentin, dass die Seeleute solche Behutsamkeit an den Tag legten. Sich an Bord eines Schiffes zu schleichen, war schließlich keine Bagatelle. Warum hatten sie ihn nicht längst an seinen Beinen gepackt und herausgezogen?
Den Grund dafür sah Quentin in dem Augenblick, da er sich selbst hinabbeugte, um einen Blick in die finstere Bughöhle zu werfen: Der blinde Passagier war eine Frau!
Ihr Alter war unmöglich zu schätzen, zumal ihre Züge dreckverschmiert waren und ihr schwarzes Haar in fettigen Strähnen hing. Die vollendeten Formen waren jedoch auch durch den schäbigen Matrosenanzug zu erkennen, und ihre Augen, die zugleich verwirrt und verängstigt blickten, waren so tief und blau wie der Ozean unter dem Kiel der Fary Fay .
Quentin kam nicht umhin festzustellen, dass sie eine Schönheit war. Und schon im nächsten Augenblick schämte er sich für diese Erkenntnis.
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12
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Florenz
Nacht des 4. September 1784
Signora Ginesepina war wütend.
Wütend auf sich selbst, auf ihre Gutmütigkeit und ihr viel zu sanftmütiges Wesen. Vor allem aber auf die Küchenhilfe, die man ihr zugeteilt hatte und die eigentlich gar keine war. Nach Carlas spurlosem Verschwinden war Ginesepina eigentlich froh gewesen, wieder jemanden zu haben, der ihr bei ihren zahlreichen Pflichten zur Hand ging (auch wenn sie das im Leben niemals zugegeben hätte). Doch das junge, kümmerliche Ding, das man ihr zur Seite gestellt hatte, war ihr mehr Last als Hilfe und sorgte für mehr Verdruss als Erleichterung.
Entsprechend kam eine Verwünschung nach der anderen über Ginesepinas Lippen, während sie über die steile Treppe in den Keller stieg, einen Besen in den Händen, um die Spuren von Serenas Verbrechen zu beseitigen.
Was, in aller Welt, war nur in das Gör gefahren? Litt das dürre Ding jetzt unter Wahnvorstellungen? Ginesepina hatte sie von Anfang an nicht leiden mögen, dünn und abgemagert, wie sie war, und die Duchessa auch mehrfach darauf hingewiesen – vergeblich. Nun war es gekommen, wie es hatte kommen müssen: Serena hatte gezeigt, dass sie zu nichts nütze war, und als Beweis ihrer Unfähigkeit hatte sie eine Flasche vom besten Wein zerbrochen! Entsprechend wäre Ginesepina am liebsten zur Duchessa gegangen, um ihr voller Genugtuung von Serenas Vergehen zu berichten. Aber es war eine jener kleinen Grausamkeiten des Lebens, dass sie das nicht konnte. Schlimmer noch, dass sie nun auch noch in den Keller gehen und die Spuren des Missgeschicks beseitigen musste. Denn als Köchin war sie für ihre Untergebene verantwortlich und also auch für deren Versäumnisse – und sie verspürte kein Verlangen danach, für etwas zurechtgewiesen zu werden, das jemand anders verbrochen hatte.
Auch wenn es bedeutete, zu nachtschlafender Zeit in den Keller hinab zu müssen.
»Pah«, schimpfte Ginesepina zwischen schweren Atemzügen, als sie endlich das Ende der Treppe erreichte, »besser keine Hilfe als so eine.«
Den Besen in der einen, den Kerzenleuchter in der anderen Hand, stampfte sie zur Vorratskammer, deren Tür sie missmutig öffnete. Schnaubend sah sie sich um, ließ den Lichtschein der Kerze über die Regale streifen, nur um missbilligend die Bescherung zu
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