Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
starrte sie auf die dicke, vor Selbstgefälligkeit strotzende Frau, die vermutlich in ihrem ganzen Leben noch niemals Hunger gelitten oder echtes Leid erfahren hatte, und verspürte plötzlich den innigen Wunsch, es ihr heimzuzahlen, sie zumindest ein klein wenig aus ihrem Dünkel und ihrer Bequemlichkeit aufzuschrecken.
»Sie interessieren sich vielleicht nicht für die Revolution«, erwiderte sie genüsslich »und mögen glauben, dass sie noch sehr weit weg ist. Aber womöglich ist sie bereits angekommen, hier in diesem Haus.«
»Was willst du damit sagen?«
»Gar nichts – nur dass unter den Gästen, die uns in diesen Tagen besuchen, auch Franzosen waren«, eröffnete Serena. »Womöglich solche, die aus ihrem eigenen Land fliehen mussten.«
»Du sprichst über gefährliche Dinge«, stieß Ginesepina hervor, nun eindeutig nicht mehr in selbstgefälliger Ruhe.
»Ich sage nur, was ich gesehen und gehört habe«, verteidigte sich Serena.
»Und das kann schon zu viel sein in diesem Haus«, bestätigte die Köchin und blickte einmal mehr furchtsam nach der Tür. »Ich habe dir doch gesagt, dass du keine Fragen …«
»Aber ich …«, wollte Serena widersprechen, als die Küchentür plötzlich aufschwang und Manus auf der Schwelle stand. Ein greller Schrei entfuhr Ginesepinas kurzem Hals, Serena erstarrte.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich der schwarze Hüne, als er die Blicke beider Frauen wie gebannt auf sich gerichtet sah. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen er sein Schweigen brach, und Serena war beinahe enttäuscht über den Klang seiner Stimme, die weder besonders tief noch sonst beeindruckend war, sondern erschreckend belanglos.
»A-alles«, bestätigte die Köchin. »Warum fragst du?« Sie deutete auf das Fleisch, das vor ihr auf dem Tisch lag. »Möchtest du versuchen?«
In Manus’ dunklen Augen blitzte es, und ein Grinsen huschte über seine bartlosen Züge. »Warum nicht?«
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9
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New York
42 Jahre später
Der gefrorene Schnee knirschte unter seinen Füßen, sein Atem ging keuchend und stoßweise, während Quentin die von Unrat übersäte Seitenstraße hinabrannte. Wann immer er über die Schulter blickte, sah er den Mann mit dem Dreispitz zwischen Mauervorsprüngen und Kistenstapeln.
Da immer mehr der kleinen Ladengeschäfte öffneten, war die Straße inzwischen einigermaßen belebt, umso mehr erschreckte Quentin die Beharrlichkeit, mit der ihm der Unbekannte auf den Fersen blieb. Um den Verfolger abzuschütteln, hatte er einen Umweg gemacht, inzwischen jedoch war er nur noch einen Häuserblock von zu Hause entfernt. Der Gedanke, endlich dort anzukommen und die Tür hinter sich zu schließen, war verlockend, andererseits wollte Quentin den Kerl nicht geradewegs zu seinem Haus führen – und damit auch zu Mary! Die Arme sollte nicht noch mehr Grund bekommen sich zu sorgen.
Anstatt den Weg nach Hause einzuschlagen, bog er abermals ab und gelangte auf die Bowery Road, die von der Südspitze der Insel heraufführte und um diese Tageszeit bereits sehr belebt war. Hier brauchte Quentin sicher nicht mehr zu fürchten, Opfer eines Überfalls zu werden, doch musste er eine Möglichkeit finden, den Kerl mit dem Dreispitz loszuwerden.
Die Gelegenheit bot sich an einer Straßenecke, wo eine Mietdroschke bereitstand. Gewöhnlich versagte sich Quentin diesen Luxus, was ihm unter seinen Kollegen bei der Post den Ruf eines geizigen Schotten eingetragen hatte, und er hatte nichts dagegen unternommen, um diesen Eindruck zu widerrufen. Es war ihm lieber, die Leute hielten ihn für sparsam, als wenn sie argwöhnten, dass er sich keine Droschkenfahrt leisten konnte.
In diesem Fall jedoch biss er in den sauren Apfel. Über die Fußtreppe, die der Kutscher beflissen für ihn ausklappte, bestieg er das Gefährt und ließ sich auf dem gepolsterten Sitz nieder.
»Wohin, Sir?«, fragte der Kutscher, ein gedrungener Mann mit breiter Stirn und deutschem Akzent.
»Ich weiß nicht.« Durch das glaslose Fenster spähte Quentin nach draußen, konnte den Mann mit dem Dreispitz jedoch nicht mehr entdecken. »Einmal um den Square. Dann sage ich Ihnen, wie es weitergeht.«
Der Blick des Deutschen verriet, dass er Quentins Ansinnen seltsam fand, aber er sagte nichts. »Wie Sie wünschen, Sir«, bestätigte er stattdessen nur und erklomm den Kutschbock – und die Fahrt begann.
Als das Gefährt anfuhr und Quentin an den steif gefrorenen Vorhängen vorbei nach draußen spähte, glaubte er,
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