Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Augenblicke, um zu erkennen, dass sie sich nicht mehr in ihrem Häuschen in New York befand.
Einzelheiten schälten sich aus dem Halbdunkel, das sie umgab: die holzverkleideten Wände einer winzigen Kammer; ein kleiner Tisch, der an Stricken befestigt von der niederen Decke hing; ein hölzerner Eimer, um die Notdurft zu verrichten. Dazu war ein beständiges Knarren zu hören, die Luft roch salzig und nach Tang, und Mary hatte das Gefühl, dass sich das kurze Bett, in dem sie lag, auf und ab bewegte.
Natürlich , schoss es ihr durch den Kopf. Das Schiff …
»He«, ließ sich Quentin sanft vernehmen, der in der benachbarten Koje lag. Offenbar hatte ihr Schrei ihn geweckt. »Alles in Ordnung?«
»Ja«, behauptete sie flüsternd, während sie noch immer dabei war, sich zu orientieren.
Das Schiff trug den Namen Fairy Fay .
Vor zehn Tagen waren sie von New York aus in See gestochen und befanden sich nun auf dem Weg nach Europa, in die alte Heimat.
Heimat .
Das Wort allein genügte, um in Mary Gefühle der Sehnsucht zu wecken. Und Ängste …
»Was ist los?« Im Mondschein, der durch das winzige Oberlicht in die Kabine fiel, war zu sehen, wie Quentin sich die Augen rieb und dann aufsetzte. Dabei musste er sich vorsehen, dass er sich den Kopf nicht an den Staufächern stieß, die oberhalb der Koje angebracht waren. »Hast du wieder schlecht geträumt?«
Mary nickte zögernd. Sie wollte Quentin nicht damit belasten, aber ihre Träume waren tatsächlich schlecht gewesen, dunkel und voller unheilvoller Ahnungen und Bilder. Sie hatte von Wasser geträumt und geglaubt zu ertrinken …
»Ist schon gut.« Schlaftrunken, wie er war, stand er auf und kam auf ihre Seite des von der Decke hängenden Tisches, setzte sich auf die Kante ihres Bettes. »Du kannst es mir erzählen«, versicherte er. »Du kannst mir alles erzählen.«
»Ich weiß.« Sie rang sich ein Lächeln ab, suchte die Wahrheit hinter seinen Worten zu ergründen. Was ihn letztlich dazu bewogen hatte, seine Meinung zu ändern und sie auf die Reise mitzunehmen, wusste Mary nicht zu sagen. Schon der Gedanke, in ihrem Haus zurückzubleiben, während er nach Europa fuhr, alleingelassen mit all den Erinnerungen, hatte sie an den Rand des Wahnsinns gebracht. Deshalb war sie froh, nun bei ihm zu sein. Doch es blieben auch Zweifel …
»Was ist los?«, fragte er noch einmal und lächelte ebenfalls.
»Nichts.« Sie zuckte verlegen mit den Schultern, kam sich albern dabei vor. »Es quälen mich nur die alten Ängste.«
»Dass deine Träume sich bewahrheiten könnten? Dass die Vergangenheit sich wiederholen könnte?«
Sie nickte abermals. »Vielleicht war es ein Fehler, dich zu begleiten«, flüsterte sie. »Vielleicht wird dadurch alles nur noch schlimmer.«
»Mary. Meine liebste Mary«, erwiderte er nur, und statt den nutzlosen Versuch zu unternehmen, ihr zu widersprechen oder sie mit Worten trösten zu wollen, nahm er sie in die Arme und zog sie zu sich heran, unbeholfen, aber voller Liebe.
Sie wehrte sich nicht dagegen, genoss das Gefühl von Geborgenheit, das er ihr schenkte, und einen Augenblick lang schien alles ruhig zu sein, friedlich. Nur das Knarren des Schiffes war zu hören, das leise Plätschern der Wellen, die gegen den Rumpf schlugen, und Mary wünschte sich, dass es immer so bleiben und sich niemals ändern mochte.
Quentin zog sie noch enger an sich, sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken. Und den zarten Kuss, mit dem er ihn liebkoste.
Ein Schauder durchrieselte sie. Aber es war kein wohliger Schauder, kein lustvolles Erbeben, sondern Unsicherheit, Furcht.
Da sie nichts dagegen unternahm, küsste er sie abermals.
Sie fühlte seine Lippen auf ihrer nackten Haut und schloss die Augen. Sie kämpfte gegen die Panik an, die in ihr aufstieg, sagte sich, dass es dumm war und töricht, doch die Furcht blieb. Noch einmal küsste er sie, dann fühlte sie, wie seine Hand an ihr herabglitt, ihren nackten Schenkel befühlte und dann langsam unter ihr Nachthemd glitt …
In diesem Moment verlor sie die Kontrolle.
Ihr Körper verkrampfte sich, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte. Tränen schossen ihr in die Augen, weil ihr klar war, wie schrecklich und abweisend dies auf ihn wirken musste, aber ihre Furcht war stärker, sie kam nicht dagegen an.
»Bitte nicht«, hauchte sie. »Bitte nicht.«
Quentins Hand hielt inne, als wäre sie versteinert. Einen grässlichen Augenblick lang herrschte Schweigen, dann zog er sie zurück, gab Mary aus seiner
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