Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Inzwischen hatte er diese Entscheidung schon dutzendfach bereut. Denn unter ihrem prüfenden Blick in der Kutsche zu sitzen, setzte ihm zu, und irgendwann hielt er es einfach nicht mehr aus.
Mit einem resignierenden Seufzen ließ er den Bericht sinken, den zu verstehen er inzwischen zum vierten Mal erfolglos versucht hatte, und erwiderte Brighids fragenden Blick. »Was denken Sie?«, wollte er wissen. Da er anders als Mary die französische Sprache nicht beherrschte, sprach er Englisch, bemühte sich jedoch, den schottischen Akzent so gut wie möglich zu unterdrücken.
»Was Sie meinen?«, erwiderte sie in ihrem eigentümlichen Englisch, das bisweilen mehr wie Französisch klang. Dennoch hatte sie in der kurzen Zeit erstaunliche Fortschritte gemacht.
»Nun, ich vermute, dass Sie sich abgeschoben vorkommen, ungerecht behandelt«, wurde Quentin deutlicher.
»Non.« Sie schüttelte den Kopf. »Dazu habe ich – wie sagt man? – keine Rechte?«
»Kein Recht«, verbesserte Quentin.
» Oui , das meine ich … Man ist immer gut zu mir gewesen, Sie ganz besonders, Mr. Hay.«
»Sie dürfen auch Mary nicht böse sein«, bat Quentin sich aus. »Sie hat viele Sorgen und …«
»Je sais bien« , sagte Brighid. »Ich weiß.«
»Nein«, wehrte Quentin kopfschüttelnd ab, »das können Sie nicht wissen. Es geht dabei um Dinge, die im vergangenen Jahr geschehen sind, und die …«
»Ich weiß«, wiederholte sie.
»Sie … hat Ihnen davon erzählt?«
»Certainement.« Brighid lächelte rätselhaft. »Ihre Gattin und ich haben manches Geheimnis miteinander geteilt.«
»Natürlich.« Quentin nickte. Er kam sich plötzlich dumm vor, ausgeschlossen, und das ärgerte ihn, obwohl er es sich eigentlich hätte denken können, dass Mary ihr davon erzählt hatte. War dies womöglich der Grund dafür, dass sie Brighid nicht länger bei sich haben wollte? Schämte sie sich, weil sie ihr Schweigen gebrochen hatte?
»Wollen Sie auch, dass ich gehe?«, fragte Brighid unvermittelt.
»Wie bitte?«
Sie sah ihn unverwandt an, der Blick ihrer ozeanblauen Augen machte ihn unruhig. »Wollen Sie auch, dass ich gehe?«, wiederholte sie.
»Nein, ich …« Quentin mied ihren Blick, sah hinauf zur samtbeschlagenen Decke der Kutsche. Warum, in aller Welt, fühlte er sich so elend? »Nein«, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß, »ich wollte nicht, dass Sie gehen.«
»Warum haben Sie es dann nicht verhindert?«
Quentin schürzte die Lippen. Das war in der Tat eine gute Frage, und sie trug nicht dazu bei, dass er sich besser fühlte. »Weil ich denke, dass es so besser ist«, entgegnete er einigermaßen hilflos.
»Besser für wen?«
»Für Mary … und für die Familie.«
»Pourquoi?« Ihr Blick fokussierte sich, wurde herausfordernd, ihre Mundwinkel fielen spöttisch herab. »Fürchten Sie, dass ich Ihnen Ärger bereite?«
»Nein«, versicherte Quentin, »sondern weil sich die Familie um andere Dinge kümmern muss. Es sind unruhige Zeiten, Madame, und was das Erbe meines Onkels betrifft, so fürchte ich, dass dunkle Zeiten bevorstehen. Es wäre Ihnen gegenüber nicht gerecht, Sie weiter an uns zu binden.«
»Also schicken Sie mich fort meinetwegen?«
Er sah sie an, wie sie ihm gegenübersaß, in einem dunkelroten Redingote und einem Kleid aus grüner Seide, das Mary ihr gekauft hatte, weil es nach der neuesten Pariser Mode geschnitten war, mit keulenförmigen Ärmeln, hochgeschlossenem Kragen und einem samtenen Überwurf, der an ein klösterliches Habit erinnerte. Um sich vor der Kälte zu schützen, die durch jede Ritze des unentwegt schwankenden und schaukelnden Gefährts drang, hatte sie zudem eine wollene Decke über ihre Beine gebreitet. Die unter dem Kinn gebundene Schute, die sie trug, war von hellgrüner Farbe und mutete dem noch winterlichen Grau zum Trotz wie ein Vorbote des nahenden Frühlings an. Quentin kam nicht umhin, einmal mehr zu erkennen, von welcher Ebenmäßigkeit und Schönheit das Gesicht war, das die Haube umrahmte. Die tiefblauen Augen, das pechschwarze Haar, die hohen Wangen und der sinnliche Mund …
Ihm war klar, dass ihm derlei Beobachtungen nicht zustanden, deshalb wandte er beschämt den Blick. Sie zu belügen, brachte er aber dennoch nicht fertig. »Nein, es ist wegen Mary. Für ihr Wohl würde ich alles tun.«
Sie lächelte, freundlich aber undurchschaubar. »Nun sind Sie ehrlich, wenigstens.«
»Können Sie sich inzwischen an etwas erinnern?«, wechselte Quentin absichtlich und wenig
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