Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
die Dinge gesehen? Wie hätte er entschieden? Und nun stellt sich heraus, dass ich dich ebenso gut hätte fragen können!«
»Ich weiß, Quentin, und das tut mir wirklich leid. Ich hoffe, du kannst mir irgendwann verzeihen.«
»Darum geht es nicht, ich habe dir doch längst verziehen. Es ist nur …« Quentin verstummte, erneut standen ihm Tränen in den Augen.
»Ich weiß, Junge. Ich weiß«, versicherte sein Onkel leise, und für einen Augenblick schien selbst Sir Walter Scott, der geniale Schöpfer wortgewaltiger Werke, zu keiner Erwiderung fähig.
»Wenigstens«, flüsterte Quentin in die Stille, »ist das Versteckspiel nun vorbei.«
»Was meinst du?«
»Nun, da ich dein Geheimnis entdeckt habe …«
»Mein guter, lieber Junge.« Sir Walters Lächeln war milde, vielleicht sogar ein wenig mitleidig. »Glaubst du denn wirklich, du hättest mich gegen meinen Willen hier gefunden?«
»Soll das heißen …?«
»Dass ich gefunden werden wollte, genau das.«
»Und warum nun plötzlich?«
»Weil sich die Dinge in einem Maß entwickelt haben, das die Möglichkeiten eines einzelnen Mannes übersteigt, noch dazu, wenn er wie ich im Verborgenen bleiben muss.«
»Heißt das, dass du meine Hilfe brauchst?« Quentin glaubte, nicht recht zu hören.
Ein verschmitztes Lächeln spielte um Sir Walters rundliche Züge. »Es heißt, dass du dich gerne nützlich machen darfst, wenn du schon einmal hier bist«, entgegnete er. »Dieser Vermummte, der hier eingedrungen ist, ist schon früher hier gewesen. Er scheint etwas in der Bibliothek zu suchen.«
»Und was?«, fragte Quentin.
»Eben das möchte ich mit deiner Hilfe herausfinden«, bestätigte Sir Walter. »Doch solange wir nicht wissen, womit genau wir es zu tun haben und wer der geheimnisvolle Gegenspieler ist, der meinen Untergang will, kann und werde ich nicht unter die Lebenden zurückkehren. Niemand darf davon erfahren.«
»Auch nicht Lady Charlotte?«
»Sie vor allen Dingen nicht.« Sir Walter schüttelte den Kopf. »So sehr ich den Schmerz bedaure, den ich ihr zufügen musste – würde ich mich ihr jetzt zu erkennen geben, wäre alles vergeblich gewesen, denn aus Furcht, mich ein zweites Mal zu verlieren, würde sie darauf bestehen, bei mir zu bleiben, und nichts wäre gewonnen.«
»Ich verstehe.« Quentin nickte. »Also dürfen auch Walter und Charles nichts erfahren …«
»… ebenso wenig wie die Mädchen.«
»Und – Mary?«
»In diesem Fall muss ich dich bitten, auch vor deiner Ehefrau Stillschweigen zu bewahren, mein Junge«, entgegnete Sir Walter. »Denke daran, dass auch sie nur unnötig in Gefahr gebracht würde.«
»Und diese Entscheidung wollt ihr mir nicht selbst überlassen?«
Die Stimme bebte vor Aufregung, und sie kam aus Richtung der Tür. Quentin fuhr herum, ächzte, als er Mary auf der Schwelle erblickte, im Nachtmantel, den sie sich flüchtig übergeworfen hatte. Wie lange sie dort gestanden hatte, vermochte Quentin nicht zu sagen – aber offenbar lange genug, um den ersten Schock über das unverhoffte Wiedersehen bereits verwunden zu haben.
»Mein Kind«, sagte Sir Walter.
»Ich habe es geahnt«, entgegnete sie nur. »Die ganze Zeit über.«
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2
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»Ja«, stimmte Sir Walter zu, nachdem er auch Mary in die Arme geschlossen und sie herzlich begrüßt hatte, »auf deine Träume ist stets Verlass gewesen.«
»Es waren nicht meine Träume, die mich ahnen ließen, dass du noch am Leben bist«, widersprach sie, während sie die Tränen zu trocknen versuchte, die ihr über die Wangen rannen. Zu freudig war das Ereignis, zu unbegreiflich das Wiedersehen. »Ich spreche von den Briefen Malachi Malagrowthers, die im ganzen Land solches Aufsehen erregen.«
»Malachi wer ?«, fragte Quentin.
»Malagrowther«, vervollständigte Mary und wischte energisch den letzten Rest der Tränen weg, »benannt nach einer Figur aus dem Roman › Fortunes of Nigel ‹.«
»Meine Anerkennung«, lobte Sir Walter lächelnd und deutete eine Verbeugung an. »Ich glaube nicht, dass es jemanden gibt, der meine Werke besser kennt als du.«
»Danke sehr«, erwiderte Mary. »Walter und ich sind beim Edinburgh Weekly Journal gewesen, um herauszufinden, wer der Verfasser der anonymen Briefe und Flugblätter ist. Und obwohl mir klar war, wie töricht und unvernünftig es war, habe ich insgeheim eine winzige Hoffnung gehegt – denn eigentlich gibt es in ganz Schottland nur einen, der seinen Gedanken so geschliffenen Ausdruck zu verleihen
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