Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
gesund gepflegt«, berichtete Sir Walter weiter.
»Und warum bist du danach nicht zurückgekehrt?«, wollte Quentin weiter wissen.
»Weil mir inzwischen klar geworden war, dass es kein gewöhnlicher Räuber gewesen war, der mir in jener Nacht aufgelauert hatte – und dass die Augen eines Toten manches beobachten können, was dem Lebenden verborgen bleibt.«
»Die Augen eines Toten?« Quentins Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt. Die unverhoffte Rückkehr seines Onkels, die überraschenden Enthüllungen, all die Rätsel, mit denen Sir Walter ihn überschüttete, als wäre Quentin noch immer der ahnungslose Schüler und sein Onkel der Lehrmeister – all das war zu viel für ihn. Er merkte, wie seine Knie weich wurden, und begann bedenklich zu wanken.
»Vielleicht«, sagte Sir Walter und zog einen Stuhl von einem der Lesetische heran, »solltest du dich lieber setzen, Junge. Auch freudige Ereignisse können mitunter anstrengend sein.«
»In der Tat«, war alles, was Quentin hervorbrachte, während er niedersackte, froh darüber, dass das stabile Sitzmöbel ihn auffing.
»Wo war ich stehen geblieben?« Sir Walter überlegte kurz. »Ach ja, bei meinen Beobachtungen. Nun, selbst dir wird nicht entgangen sein, dass gewaltige Veränderungen unser geliebtes Land erschüttern. Veränderungen, von denen wenn nicht alle, so doch viele ihren Ursprung in London haben.«
»Du meinst, in der Regierung?«
»Nicht unbedingt.« Sir Walter lächelte. »Wir leben nicht mehr in den Zeiten, in denen eine Königskrone Macht und eine Schwertspitze Gesetz bedeutet. Das hat fraglos Vorteile, doch sind im Schatten der neuen Zeit auch andere, niedere Elemente emporgekrochen, die die Möglichkeiten dieser neuen Zeit zu ihrem Vorteil nutzen. Geld, mein Junge, ist das Szepter dieses neuen Zeitalters. In London gibt es Kräfte, die außerhalb der Regierung stehen, jedoch mit Hilfe ihrer reichlich vorhandenen finanziellen Mittel politischen Einfluss nehmen und die bestehenden Machtverhältnisse verändern wollen.«
»I-ist so etwas denn möglich?«, fragte Quentin.
»Es hat längst begonnen«, versicherte Sir Walter. »Die Wirtschaftskrise, die Schottland gegenwärtig peinigt, ist eine direkte Folge dieser ruchlosen Politik. Nicht wenige behaupten, sie sei willentlich heraufbeschworen worden, durch gezielte Einflussnahme auf Aktien und andere Wertpapiere.«
»Warum sollte jemand so etwas tun?«
»Kannst du dir das wirklich nicht denken?« Sir Walter schürzte die Lippen. »Wann in der Menschheitsgeschichte wäre es je um etwas anderes gegangen als um Reichtum und Macht? Die Gier, mein Junge, ist eine so bedauerliche wie verlässliche Konstante der Geschichte. Sie hat Weltreiche begründet und wieder zu Fall gebracht, seit Anbeginn der Menschheit.«
»Das mag ja alles sein«, versicherte Quentin, der unruhig auf dem Samtpolster des Stuhls umherrutschte. »Aber ich verstehe noch immer nicht, was das alles mit dir zu tun hat! Warum wurde ein Anschlag auf dein Leben verübt? Und wieso hast du dich die ganze Zeit über tot gestellt?«
»Weil mir offenbar wurde«, erwiderte Sir Walter leise, »dass jene Kräfte, die unser geliebtes Schottland zu zerstören suchen, und jene, die mir nach dem Leben trachten, im selben Lager zu finden sind. Schon seit einiger Zeit hatte ich den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ich fühlte mich auf Schritt und Tritt beobachtet, hatte das Gefühl, dass mir jemand folgte …«
»Du auch?«, platzte Quentin heraus. »Dann habe ich mir das nicht nur eingebildet?«
»Nein, mein Junge.« Sir Walter schüttelte den Kopf. »Ganz sicher nicht. Ich musste feststellen, dass jemand es darauf anlegte, den Verlag in den Bankrott zu drängen und mich zu ruinieren, mit dem offenkundigen Ziel, mich als einen der bekanntesten und einflussreichsten Fürsprecher Schottlands zum Verstummen zu bringen.«
Quentin nickte. Zumindest das ergab Sinn. Schon durch seine Tätigkeit als Anwalt und Sheriff hatte sich Sir Walter einen tadellosen Ruf erworben. Der Fund der schottischen Kronjuwelen jedoch und der anschließende Besuch König Georges in Edinburgh hatte ihn weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt und populär gemacht und mit ihm auch ein neues, anderes Schottland, das sich zwar selbstbewusst und stolz seiner keltischen Wurzeln entsann, jedoch auch als einen festen Bestandteil des vereinten Königreichs betrachtete. Dieses neue schottische Selbstverständnis, für das Sir Walter wie kein anderer stand, hatte bewirkt,
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