Das Vermächtnis der Runen: Historischer Roman (German Edition)
Gentlemen nach wie vor nicht ziemte.
»Onkel«, hauchte Quentin, während er Sir Walter an sich drückte, schon um zu verhindern, dass sich dieser in Luft auflöste oder wieder verschwand. Noch immer konnte er kaum glauben, dass dies wirklich geschah, aber da er den Verlorengeglaubten nun fassen und auf das Herzlichste umarmen konnte, musste auch sein Verstand es allmählich begreifen, aller Vernunft zum Trotz.
»Es ist ein Wunder«, schluchzte Quentin, während die Tränen hemmungslos an seinen Wangen herabliefen, sich mit Blut vermischten und den Rock seines Onkels besudelten. »Ein gesegnetes Wunder, jawohl!«
»Du hast dich nicht verändert, Junge«, sagte Sir Walter. Seine angenehm dunkle und wie immer ruhige Stimme zu hören, jene Stimme, von der Quentin geglaubt hatte, dass er sie niemals wieder in seinem Leben vernehmen würde, ließ ihn vor Ehrfurcht beinahe erstarren. »Offenbar steckst du deine Nase noch immer in Angelegenheiten, die dich nichts angehen.«
Langsam, fast widerwillig entließ Quentin seinen Onkel aus der Umarmung. »Wie ist das möglich?«, flüsterte er, noch immer fassungslos den Kopf schüttelnd. »Ich verstehe nicht …«
»Wer will dir das verdenken, Junge?« Sir Walter schüttelte das runde, schlohweiße Haupt. Die Falten darin mochten noch ein wenig tiefer geworden sein, ansonsten hatte er sich kaum verändert.
»Habe ich alles nur geträumt?«, fragte Quentin. Ihm war klar, wie naiv sich das anhören musste, aber in diesem Augenblick schien es ihm die plausibelste Erklärung zu sein.
Sir Walter lachte freudlos auf. »Ich wünschte, es wäre so, mein Junge. Aber ich fürchte, so einfach ist es nicht. All das ist wirklich geschehen – jedenfalls das meiste davon.«
»Aber du lebst!«
»In der Tat – aber nur, weil die Kugel, die in jener Nacht auf mich abgegeben wurde, mein Herz verfehlt und stattdessen meinen Arm durchlöchert hat«, gab Sir Walter zur Antwort. »Wenn man von einem Wunder sprechen will, dann ist es dieses, denn in dieser Nacht, mein guter Quentin, habe ich den Atem des Schöpfers mehr als deutlich gespürt.«
»Was genau ist damals geschehen? Ballantyne berichtete, dass du bei ihm gewesen bist …«
Sir Walter nickte. »Danach wollte ich zu Fuß nach Hause. Ein schwerer Fehler, wie sich herausstellen sollte. Denn es war eine neblige Nacht, in der niemand sonst auf den Straßen war. Und plötzlich fiel der Schuss. Ich merkte, wie mich etwas traf, einem Stockhieb gleich, dennoch ging ich noch einige Schritte weiter. Erst als sich der Ärmel meines Mantels mit Blut färbte, wurde mir klar, dass ich von einer Kugel getroffen worden war. Diese Erkenntnis, so muss ich zu meiner Schande bekennen, sorgte dafür, dass meine Beine ihren Dienst versagten und ich zu Boden ging. Doch ich schätze, dass diese Schwäche mir das Leben rettete, denn sie signalisierte meinem vermeintlichen Mörder wohl, dass jede weitere Kugel Verschwendung wäre.«
»Deinem vermeintlichen Mörder? Aber ich dachte, dass es ein Straßenräuber gewesen sei, der …«
»Das dachte ich zunächst auch, und vermutlich sollten das auch alle denken«, räumte Sir Walter grimmig ein. »Aber da sind Widersprüche. Zu viele, dass alles zusammenpasst.«
»Ich verstehe noch immer nicht.« Quentin schüttelte den Kopf, während wirre Gedanken wie ein Schwarm aufgescheuchter Fledermäuse in seinem Kopf umherschwirrten. »Dann hast du den Anschlag also in Wirklichkeit überlebt?«
»So ist es«, bestätigte Sir Walter. »Leicht angeschlagen, ansonsten aber wohlbehalten.«
»Aber warum hast du das niemandem gesagt? Warum hast du es geheimgehalten? Oder …« Quentin kam plötzlich ein ganz anderer Gedanke. »Wurde nur ich getäuscht? Wussten womöglich alle anderen, dass du in Wahrheit noch am Leben bist?«
»Was denn?« Sir Walter zog die hohe Stirn kraus. »Ist deine Meinung von dir selbst noch immer so gering, dass dir das wahrscheinlich vorkommt?« Traurig schüttelte er den Kopf. »Nicht doch, Junge. Bis heute Nacht wusste niemand, dass ich noch am Leben bin – niemand außer mir und den Mönchen von Kelso, bei denen ich Zuflucht gesucht habe und die zum Schweigen verpflichtet sind.«
Quentin nickte. Er kannte den Prämonstratenser-Orden und wusste um die Verbundenheit, die sein Onkel zu den Mönchen pflegte, seit sie ihm damals bei der Zerschlagung der Runenbruderschaft behilflich gewesen waren.
»Verwundet, wie ich war, habe ich die Obhut der Mönche aufgesucht, und sie haben mich
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