Das Vermächtnis der Schwerter
versuchte, die verstörenden Bilder wieder aus seinem Kopf zu vertreiben: riesenhafte Mauern, gespickt mit metallgepanzerten Zacken wie gefletschte Zähne, dunkle Tore, so unnachgiebig wie ein Berg, Verderben und Tod überall, ganze Heerscharen an Feinden, Schwärme von todbringenden Geschossen, Feuer und Rauch. Barat plagten diese Albträume neuerdings wieder häufiger, obwohl er eigentlich schon geglaubt hatte, die Schrecken von Arch Themur überwunden zu haben. Aber da war er anscheinend im Irrtum gewesen. Warum ausgerechnet jetzt diese alten Erinnerungen wieder ihre hässliche Fratze zeigten, konnte Barat sich nicht erklären. Natürlich war gerade in den letzten Tagen vieles vorgefallen, was ihm die vergangenen Ereignisse von Neuem ins Gedächtnis rief, aber im Gegensatz zu damals waren die Kämpfe der letzten Zeit vergleichsweise glimpflich abgelaufen, denn die meisten seiner Kameraden lebten noch. Möglicherweise lag der Grund für die hartnäckig wiederkehrenden Traumbilder in der ungeahnten Verantwortung, die seit der Eroberung der Insel auf ihm lastete. Vielleicht sollten sie ihm als Warnung dienen, für das, was ihn noch erwartete.
Als die Gräuel des Albtraumes sich zunehmend zu verflüchtigen begannen, stand Barat auf und humpelte ächzend zum Fenster. Wie jeden Morgen fühlten sich seine Knochen an, als habe jemand Sand zwischen Wirbel und Gelenke gestreut, und Barat wusste, dass dieser knirschende Schmerz erst nach längerer Zeit der Bewegung wieder verschwinden würde. Zusätzlich machte sich immer wieder seine aus der Mine stammende Verletzung am Knöchel bemerkbar, obwohl sie äußerlich gut verheilt zu sein schien. Aber der Veteran war diese Abnutzungserscheinungen seines alternden Körpers inzwischen gewohnt und versuchte, sie weitestgehend zu ignorieren.
Gähnend blickte er von seinem Kasernenzimmer hinaus auf den Burghof, der zu dieser frühen Stunde noch vollkommen ruhig wirkte. Das erste sachte Grau des Morgens zeigte sich gerade erst am Himmel, dennoch veranlasste Barat diese Feststellung zu plötzlicher Eile. Hastig kleidete er sich an, warf noch einen wärmenden Wollumhang über und machte sich dann auf den Weg zur Festungsmauer. Am heutigen Tag bei Sonnenaufgang sollte die Kette, welche die Zufahrt zum Hafen versperrte, gesenkt werden und er wollte unbedingt verfolgen, wie die Stadtbewohner darauf reagieren würden.
Wenig später hatte er den Wehrgang erreicht, der auf der oberen Mauerkante verlief. Er nickte Erbukas zu, der in einen dicken Mantel gehüllt auf ihn gewartet hatte. Nach ihrer kurzen Begrüßung ging der Bergmeister zu einigen Arbeitern hinüber und verschwand mit ihnen in dem nahen Eckturm der Burg, wo eine Treppe tief unter das Festungsgelände führte. In einem kleinen Raum auf Höhe des Hafens befand sich dort die gewaltige, senkrecht stehende Winde, auf die die Sperrkette aufgewickelt werden konnte. Um das Bewegen der zahllosen, zusammengeschmiedeten Eisenglieder überhaupt bewältigen zu können, war an dem Ende der Kette, das von der Winde herabhing, ein massives Gegengewicht angebracht worden, das sich beim Heben der Kette in einen Schacht absenkte und beim Herunterlassen entsprechend angehoben wurde. Dennoch bedurfte es mindestens vier Männer, um die gewaltige Winde zu bedienen.
Während Barat die Vorgänge im Hafen verfolgte, wühlte der raue Wind vom Meer unablässig in seinen Haaren und Kleidern. Bei dieser steifen Brise würden die Schiffe, die Andobras verlassen wollten, gute Fahrt machen, dachte der alte Soldat betrübt. Langsam verschwand die Sperrkette unterhalb der Wasseroberfläche, sodass die Hafeneinfahrt das erste Mal seit der Einnahme der Festung wieder frei war. Angespannt spähte Barat über die Festungszinnen nach unten. Viele Andobrasier waren zu dieser Zeit bereits auf dem Kai unterwegs, wollten möglicherweise Zeuge sein, wie sie ein wesentliches Stück ihrer Freiheit zurückerhielten.
Den Anfang machten die Fischer. Zahlreiche kleinere Boote mit Netzen und Fischlanzen an Bord verließen Andobras in Richtung offenes Meer. Allerdings hatte Barat in diesem Fall die Hoffnung, dass die Boote nach einem erfolgreichen Fang in ihre Heimatstadt zurückkehren würden. Kurze Zeit später folgten zwei größere Segler, beides Handelsschiffe, die seit der Machtübernahme durch die Minenflüchtlinge im Hafen festgesessen hatten. Natürlich war es möglich, dass auf diesen Schiffen neben der Mannschaft auch noch einige Andobrasier an Bord waren, die der
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