Das Vermächtnis der Wanderhure
Wassilissa über den sexuellen Appetit des Fürsten zu sprechen.
Die alte Kräuterfrau bemerkte den Unmut ihres Gastes und kam auf den Grund ihres Themenwechsels zu sprechen. »Ich wollte nur wissen, ob Andrej etwas von einem geplanten Kriegszug erwähnthat. Heute Morgen bin ich in den Wald gegangen, um Beeren zu sammeln, die mindestens drei Wochen lang gefroren sein müssen, bevor sie ihre volle Wirkung erlangen. Dabei habe ich Spuren von Männern und Pferden entdeckt, die von Osten kamen, von Moskau her. Es mögen Verbündete sein, mit denen unser Fürst gegen Sachar Iwanowitsch oder einen der anderen untreuen Bojaren ziehen will. Aber wenn es sich um Feinde handelt, ist Worosansk in höchster Gefahr! Jetzt im Winter rechnet doch niemand mit einem Angriff.«
»Ich weiß nichts von einem geplanten Kriegszug.« Marie spreizte die Hände, Unruhen oder gar ein Angriff würden ihre Lage verschlimmern. Wenn fremde Krieger die Stadt erstürmten, galten das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer Frau, noch dazu einer Sklavin, weniger als die eines Tieres. Und selbst wenn Alika und sie die wiederholten Vergewaltigungen durch die vom Kampf aufgepeitschten Männer überleben würden, würde man sie als Beute in ein anderes Land schleppen, das der Heimat vielleicht noch ferner lag als Worosansk.
Wassilissa ergriff ihre Hand und tätschelte sie. »Es wird schon alles gut werden. Immerhin war Dimitris Vater kein Feind der Moskowiter, und bisher hat unser Fürst sein Schwert nicht gegen Wassili II. gezogen. Vielleicht sind es nur durchziehende Scharen, die in ihre Heimat zurückwollen, Litauer zum Beispiel oder Männer aus Pskow.«
»Ja, so wird es sein, Wassilissa.« Zwar war Marie anderer Meinung, aber sie lächelte, um ihre Gastgeberin nicht zu beunruhigen. Im Kreml bekam sie einiges mehr mit als die Kräuterfrau, und sie hatte die Wutausbrüche des Fürsten gegen Moskau und seinen Herrscher erlebt. Dimitri mochte zwar noch nicht das Schwert gegen Wassili II. gezogen haben, aber mit Worten hatte er den Krieg längst begonnen.
Die alte Kräuterfrau schien einen möglichen Angriff sofort wieder aus ihren Gedanken zu verbannen, denn sie erwiderte MariesLächeln und kam noch einmal auf Anastasia zu sprechen. »In der nächsten Zeit wirst du einiges an Medizin für deine Herrin benötigen. Während der Schwangerschaft neigt sie zu Übelkeit und Erbrechen und leidet dann unter starken Gemütsschwankungen.«
»Um Gottes willen! Wenn es noch schlimmer wird als bisher, weiß ich mir kaum noch einen anderen Rat, als ihr den Saft von beruhigenden Pflanzen einzuflößen. Aber der schmeckt ihr wahrscheinlich nicht, und ich weiß auch nicht, wie er sich auf das Ungeborene auswirkt.«
Wassilissa nickte bekümmert und riet Marie von allen Mitteln ab, die mehr bewirkten, als das Einschlafen zu erleichtern. Stattdessen zählte sie jene Säfte, Tees und Tinkturen auf, die Marie für Anastasia bereithalten sollte, und lenkte sie so von ihrer Angst vor der Zukunft ab. Eine Weile diskutierten die beiden Frauen noch eifrig, dann hatten sie beide das Gefühl, dass es vorerst nichts mehr zu sagen gab, und verabschiedeten sich herzlich voneinander.
Während des Gesprächs hatte Marie die fremden Soldaten beinahe schon vergessen, doch als sie durch den einsetzenden Schneefall zum Kreml wanderte, erinnerte sie sich wieder an Wassilissas Vermutungen. Es war wirklich keine Zeit für Krieg und Kampf, denn der Schnee reichte den Pferden mindestens bis an den Bauch. In ihrer Heimat hätte sich bei einem solchen Wetter kein Bewaffneter im Freien herumgetrieben, und sie nahm auch nicht an, dass das hier der Fall war.
Trotz dieser eher beruhigenden Überlegung wuchs in Marie mit jedem Schritt die Sorge vor dem, was noch auf sie zukommen mochte. Die weißen Mauern des Kremls waren in dem Schneetreiben kaum zu erkennen und die Torwachen tauchten wie Gespenster aus dem Halbdunkel auf. Die Männer stiegen von einem Bein auf das andere und klopften mit ihren Armen gegen Schultern und Leib, um sich aufzuwärmen und den Schnee abzuschütteln,der an ihnen klebte. Unter ihren spitz zulaufenden Helmen, die ein wenig an die Kuppeln der hiesigen Kirchen erinnerten, wirkten sie verärgert.
Als Marie durch das Tor trat, kam einer der Männer auf sie zu.
»Du, Marija! Frag doch oben nach, wo unsere Ablösung bleibt. Wir stehen uns hier schon viel zu lange die Beine in den Bauch. Diese verdammten Kerle denken wohl, sie können in der warmen Stube hocken
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