Das Vermächtnis der Wanderhure
Fürstin ist zu dünn, um sich lange im Freien aufhalten zu können.«
Alika zog eine Schnute und flößte Lisa den Brei etwas unachtsam ein. Prompt verschluckte sich die Kleine und begann zu husten, so dass die Mohrin sich um sie kümmern musste. Als sie sich Marie wieder zuwandte, hatte sie sich mit deren Entscheidung abgefunden. »Dann warten wir bis zum Frühjahr.«
Während Alika Lisa fütterte, die wieder brav ihr Mündchen öffnete und den Brei von der Spitze des viel zu großen Löffels lutschte, hatte Marie alle Hände voll mit Wladimir zu tun. Der Thronfolger war nun über ein Jahr alt und schluckte normalerweise den Brei gierig. An diesem Tag aber spie und spuckte er und plärrte zwischendurch, dass Maries Nerven zum Zerreißen angespannt waren.
»Er bekommt Zähne«, vermutete Alika.
Marie tastete über das Zahnfleisch des Jungen. »Ich spüre gleich mehrere. Es wird ja auch höchste Zeit. Lisa hat schon einige, und bei meiner Tochter Trudi sind die Zähne ebenfalls viel früher durchgebrochen. Anastasia wird sich freuen. Aber ich melde es ihr erst, wenn ich von Wassilissa zurückgekehrt bin. Die Kräuterfrau gibt mir gewiss eine Tinktur, die Wladimir das Zahnen erleichtert.«
Da Lisa satt war, legte Marie Alika den Jungen auf den Schoß und stand auf. »Mach du bitte weiter! Du kommst mit unserem Prinzlein besser zurecht als ich.«
Alika musterte sie mit leichtem Spott. Marie wurde nur selten ungeduldig, aber nun schien die Tatsache, dass sie noch etliche Monate bis zur Flucht würden warten müssen, auch sie zu belasten. »Wir hätten heuer noch fliehen sollen«, sagte sie ohne besonderen Nachdruck, obwohl ihr bewusst war, dass ihnen dieKraft dazu ebenso gefehlt hatte wie das Wissen um das Land, in das man sie verschleppt hatte, und all die vielen kleinen Reiche, die es umgaben.
Während die Mohrin Wladimir fütterte, der sich bei ihr sofort wieder beruhigt hatte, wanderten ihre Gedanken in die ferne Heimat, in der kein weißes Pulver vom Himmel regnete und in dem einem nicht die Finger vor Kälte erstarrten, wenn man ohne Handschuhe ins Freie ging. Seufzend fragte sie sich, ob sie die grüne Landschaft am großen Strom und die Stadt mit den weiß gekalkten Häusern, die aus von der Sonne hart gebackenem Lehm errichtet worden waren, jemals wiedersehen würde. Im Grunde ihres Herzens ahnte sie, dass dies nicht möglich war, denn sie war weder in der Lage, die vielen fremden Länder zu bezwingen, die zwischen diesem kalten Ort und ihrer Heimat lagen, noch das große Meer, über das sie als Sklavin gebracht worden war. Sie bezweifelte auch, dass es ihr und Marie gelingen würde, deren Heimat zu erreichen. Doch ehe sie sich hier totschlagen ließ, würde sie sich ihrer Freundin und deren Wissen anvertrauen. Dabei fürchtete sie sich durchaus auch vor dem, was sie an jenem Ort erwarten würde, an dem Maries Haus stand, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass die Menschen dort freundlicher zu einer Frau mit dunkler Haut sein würden als die Russen.
III.
W assilissas Hütte lag abseits der Hauptstraße in einem freien Geviert, welches die Kräuterfrau als Garten nutzte. Jetzt reichte der Schnee dort Marie bis zur Hüfte. Zu ihrer Erleichterung hatte die Kräuterfrau einen schmalen Pfad freigeräumt, der schnurgerade auf das Blockhaus zuführte. Die Fensterläden waren fest geschlossen, doch der Rauchfaden, der aus einer kleinenÖffnung unter dem Giebel herausdrang, verriet, dass Wassilissa zu Hause war. Marie pochte kurz gegen die Tür und trat ins Haus, ohne die Antwort abzuwarten, denn ihr war auf dem Weg durch die Stadt so kalt geworden, dass sie zu erstarren glaubte.
Wohl trug sie einen Fellmantel und dicke Stiefel, doch beide waren so kahl wie ein von Räude befallener Hund. Für lange Wanderungen oder gar eine Flucht war diese Kleidung gänzlich ungeeignet. Da Marie in der Gunst der Fürstin stand, hätte sie ein Anrecht auf bessere Sachen gehabt, doch die Verwalterin der Kleiderkammer gehörte zu den hochrangigen Frauen am Hof, die ihr den vertrauten Umgang mit Anastasia neideten, und hatte sie daher mit diesen Lumpen abgespeist.
»Na, heute wieder tief in Gedanken verstrickt?« Wassilissa war solche Augenblicke der Abwesenheit von Marie gewohnt, doch bisher hatte ihr Gast noch nie vergessen, sie zu begrüßen.
Marie entschuldigte sich hastig und holte ihr Versäumnis rasch nach. Dann schälte sie sich aus Mantel und Stiefeln. Die Kräuterfrau nahm ihr beides ab und schüttelte
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