Das Vermächtnis der Wanderhure
Raum. Vor der Tür traf sie auf Alika, die eben mit dem Kinderbrei aus der Küche kam.
»Hilfst du mir beim Füttern der Kleinen?«, fragte die Mohrin.
Marie wollte schon den Kopf schütteln, sagte sich dann aber, dass sie auch ein wenig später zur Kräuterfrau gehen konnte, und folgte der Freundin in ihr gemeinsames Kämmerchen. Die Wiege des Thronfolgers versperrte den knappen Platz zwischen den Betten und Lisas Lager, und doch war Marie froh, dass Anastasiadieses Arrangement nicht rückgängig gemacht und ihrem Sohn wieder seine eigene Kammer zugewiesen hatte, denn die jetzige Situation erleichterte ihr und Alika die Arbeit. Sie musste allerdings immer noch Acht geben, dass die Fürstin und deren vertraute Dienerinnen ihnen nicht vorwerfen konnten, die beiden Kinder gleichrangig zu behandeln.
Da Wladimir deutlich sichtbar bevorzugt werden musste, bekam er scheinbar bessere Nahrung, wurde in feinere Tücher gewickelt und lag natürlich allein in seiner mit duftenden Polstern und bestickten Zudecken ausgestatteten Wiege. Seltsamerweise hatte die Tatsache, dass Marie Lisa nach dem Mordversuch zu ihm gelegt hatte, weil er an ihrer Seite ruhiger schlief, nicht nur bei der Fürstin Anstoß erregt. Dabei waren die beiden Kinder noch viel zu klein, um den entscheidenden Unterschied zwischen ihnen erkennen zu können.
»Ist die Fürstin trächtig?«, fragte Alika.
Sie hasste Anastasia wegen der Hiebe, die sie auf deren Befehl beinahe regelmäßig erhielt. Die Fürstin hatte nicht aufgehört, Alika für die kleinste Kleinigkeit zu bestrafen, obwohl Fürst Dimitri die Mohrin wegen des hässlichen Ausschlags im Gesicht und an den Geschlechtsteilen mied. Aus diesem Grund drängte Alika immer wieder zur Flucht. Auch jetzt fragte sie, wie weit ihre Freundin mit ihren Vorbereitungen gekommen war.
Nun bekam Marie ein schlechtes Gewissen, weil sie sich entschlossen hatte, bis zum nächsten Sommer zu bleiben und Fürstin Anastasia als Geburtshelferin zur Seite zu stehen. Für Alika bedeutete das, wohl noch viele Monate lang mit dem unangenehmen Ausschlag herumlaufen müssen, denn wenn sie das Mittel absetzte, würde der Fürst sie wieder in sein Bett zerren. Irgendwie tue ich immer das Falsche, dachte Marie ein wenig traurig, denn hätte ich mich im letzten Jahr nicht so überstürzt auf die Reise zu Hiltrud begeben, wäre ich nicht in Huldas Falle gelaufen,sondern säße nun warm und gemütlich auf Kibitzstein und würde meinen eigenen Sohn füttern.
»Leider bin ich noch nicht weitergekommen. Ich kann hier im Kreml weder Decken noch Ersatzkleidung oder andere Dinge verstecken, die wir dringend brauchen, und in der Stadt kenne ich niemanden, dem ich mich anvertrauen könnte.« Marie hoffte, Alika würde das Thema fallen lassen, doch die Mohrin rieb sich kurz über die Nase und sah sie dann lächelnd an.
»Und was ist mit der Kräuterfrau? Sie ist doch deine Freundin geworden.« Alika sprach eine Überlegung an, mit der Marie schon länger gespielt und die sie jedes Mal wieder verworfen hatte. Zwar kam sie mit Wassilissa ausgezeichnet zurecht und lernte viel von ihr über den Gebrauch der hiesigen Kräuter, Wurzeln und Rinden. Dennoch konnte sie nicht abschätzen, ob die Alte sie bei einem solchen Vorhaben unterstützen oder an die Fürstin verraten würde.
Unschlüssig hob sie die Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich das wagen kann. Noch eilt es ja nicht. Erst muss der Winter hinter uns liegen.«
»Wir sollten lieber jetzt verschwinden«, unterbrach sie Alika. »In dieser weißen Wüste wird man uns gewiss nicht verfolgen. Essen können wir stehlen und in den Nächten werden wir uns gegenseitig wärmen.«
Marie seufzte. Ihre Freundin hatte den Winter bis jetzt nur im Innern des warmen Terems und auf den kurzen Wegen über die windgeschützten Höfe erlebt. Daher wusste sie nicht, wie scharf der Biss der Kälte sein konnte, insbesondere wenn man nicht genug zu essen bekam. Sie selbst dachte mit Grauen an die Erfahrungen, die sie bei den Hussiten gemacht hatte, und selbst in ihrer Heimat hätte sie sich während dieser Jahreszeit nicht ohne Not auf eine lange Reise begeben. In diesem Land mussten sie zudem noch heimlich wandern, und das war bei den draußen herrschenden Schneeverhältnissen unmöglich.
»Wir würden schon in der ersten Nacht erfrieren oder ein Opfer der Wölfe werden, meine Gute. Außerdem bräuchten wir für eine Winterflucht viel wärmere Sachen, als man uns hier gibt. Selbst der Pelzmantel der
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