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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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nichts.«
    »Wahrscheinlich hütet er sich, etwas an deine Ohren dringen zu lassen, denn du giltst als Dimitris engster Freund.«
    »Wie eng seine Freundschaft zu mir ist, hast du ja an den zehn Bechern Wasser gesehen, die er mich saufen ließ.« Andrej sah nicht so aus, als würde er seinem Fürsten diesen Streich so rasch verzeihen.
    »Immer noch besser als zehn Becher Branntwein!«, wies der Priester ihn zurecht.
    »Da hast du Recht, ehrwürdiger Vater. Auf alle Fälle wird mir das Pissen in den nächsten Stunden leicht fallen. Ich glaube, ich muss es bereits.« Andrej lenkte seine Schritte nach draußen und suchte sich einen Haufen aufgeschichteten Schnees, um dort Wasser zu lassen.
    »Bist du denn ein Hund, der dorthin pinkelt, wo es ihn gerade überkommt?«, tadelte der Pope ihn.
    »Gewiss nicht, ehrwürdiger Vater, sonst hätte ich es direkt vor Dimitris Hochsitz getan«, antwortete Andrej lachend, während er sichtlich erleichtert den Strahl rinnen ließ. Dabei entblößte er seine Zähne zu einem freudlosen Lächeln und wies auf die Fenster der großen Halle, durch deren geschlossene Läden dünne Lichtstreifen ins Freie drangen. »Wenigstens weiß ich jetzt, weshalb Jaroslaw sich von den Festlichkeiten seines Bruders fern hält. Man würde sonst ihn zum Opfer derber Späße machen.«

V.
     
    M itten in der Nacht glaubte Marie, das Klirren von Waffen zu hören, und fühlte, wie sich ihr die Haare auf den Armen aufrichteten. Wie es aussah, bewahrheitete sich die böse Vorahnung, die sie seit dem Besuch bei Wassilissa quälte. Besorgt weckte sie Alika und befahl ihr, die beiden Kinder in mehrere Lagen warmer Tücher zu hüllen. »Es kann sein, dass wir das Haus verlassen und durch die Kälte laufen müssen«, sagte sie und suchte rasch all das zusammen, was sie in den letzten Monaten mühsam gesammelt hatte.
    »Endlich fliehen wir! Das ist gut. Der Fürst hat mich heute angesehen wie die Hyäne ein Antilopenkalb!« Alika atmete sichtlich auf, denn die Kräuter, die ihrem Körper zu einem hässlichen Ausschlag verholfen hatten, wirkten im frischen Zustand besser als getrocknet, und der größte Teil der Pusteln begann sich bereits zurückzubilden.
    Zu ihrer Enttäuschung schüttelte Marie den Kopf. »Nein, wir fliehen nicht. Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Dennoch solltest du uns warme Kleidung besorgen. Ich sehe mich inzwischen um.«
    Alika war klar, dass sie am nächsten Morgen Prügel beziehen würde, wenn sie sich ohne Erlaubnis der Aufseherin in der Kleiderkammer bediente, aber ehe sie die Freundin fragen konnte, hatte diese sich ihren abgeschabten Mantel um die Schultern geworfen und war zur Tür hinausgeschlüpft.
    Nun schlich Marie lauschend den Gang entlang, der zum Hauptausgang führte, und wunderte sich über die unheimliche Stille. Sonst hörte man draußen einen Knecht fluchen, der auf dem Weg zum Abtritt über einen Gegenstand gestolpert war, die Stimmen der Wachen, die sich unterhielten, um nicht einzuschlafen, und oft sogar den Lärm, den Dimitri und seine Gefolgsleute bei ihren bis früh in den Morgen dauernden Saufgelagenmachten. Nicht einmal der Wind war zu vernehmen, der sonst um das Haus strich und es das eine oder andere Mal erzittern ließ. Als Marie an einem der Fenster vorbeikam, blieb sie stehen und öffnete die Läden. Sie sah jedoch nicht mehr als dicke Flocken, die so dicht vom Himmel fielen, als wollten sie den Kreml und die Stadt unter ihrer weißen Last ersticken.
    Nun vernahm sie erneut das Geräusch, mit dem Eisen auf Eisen schlug, und wütende und entsetzte Rufe. Obwohl der Schnee jedes Geräusch dämpfte, war ihr, als würde in der Stadt gekämpft. Doch keiner der Soldaten, die auch nachts die wichtigsten Pforten bewachten, schlug Alarm.
    Marie lief schnell weiter, ohne das Fenster wieder zu schließen, und trat ins Freie. Das Haupttor in der Umzäunung, die den Terem umgab, stand weit offen, nirgends war ein Soldat zu erblicken. Im Palast brannte noch Licht, und Marie wandte sich dem Schein zu wie eine Motte, die von einer Flamme angezogen wird. So schnell der Schnee es erlaubte, lief sie hinüber und stellte fest, dass es auch vor diesem Tor keine Wachen gab. So schlich sie weiter, obwohl sie sich der Gefahr bewusst war, von einem der angetrunkenen Gefolgsleute des Fürsten in eine Ecke gezerrt zu werden. Sie wollte wissen, was geschehen war.
    Die große Halle wurde von den Resten blakender Fackeln erhellt, so dass die Folgen eines Saufgelages zu erkennen waren, das

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