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Das Vermächtnis der Wanderhure

Titel: Das Vermächtnis der Wanderhure Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Iny Lorentz
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Marie immer noch nicht wusste, ob er bereits am Schwarzen Meer oder an einem davon abgetrennten Gewässer lag. Dort hatte Andrej ohne Probleme eine Passage nach Konstantinopel erstanden. Zu jener Zeit war der Winter dabei, dem Frühling zu weichen, und daher hatte es oft geregnet und manchmal sogar geschneit. Trotz der beschwerlichen Seereise war Marie Tag und Nacht an Deck geblieben, denn das dunkle Innere des Schiffes hatte ihr schon beim Betreten Albträume bereitet.
    Sie hatten Konstantinopel zur Zeit der Rosenblüte erreicht, und Marie erinnerte sich mit ehrfürchtigem Staunen an den betörenden Duft der Blüten, die die Stadt mit glühenden Farben in ein Wunderland verwandelt hatten. Bei diesem Anblick war sie selbst aufgeblüht und hatte sich zum ersten Mal seit ihrer Entführung frei gefühlt, auch wenn sie sich beim Betreten der gewaltigen Hagia Sophia, der Kirche der heiligen Weisheit, ganz unbedeutend und klein vorgekommen war. Inzwischen waren ihre Ehrfurcht und ihre Begeisterung gewichen, denn sie hatte die Baufälligkeit all dieser Pracht kennen gelernt. Im Bukoleonpalast, in dem man Anastasia einen Trakt als Wohnstatt eingerichtet hatte, blätterte der Putz von den Wänden. Die Fenster waren alt und die Rahmen teilweise schon verfault. In den Kammern, die seltener benutzt wurden, waren die Glasscheiben entfernt und durch ölgetränkte Leintücher ersetzt worden, und dort, wo die Rahmen schon gänzlich unbrauchbar waren, hatte man die Öffnungen mit Schafsfell verschlossen.
    Marie schüttelte sich, um keine Selbstvorwürfe aufkommen zu lassen, denn sie hätte ja das Angebot des venezianischen Kapitäns annehmen können, den sie am Prosphorianos-Hafen kennen gelernt hatte, mit ihm in seine Heimatstadt zu fahren. Dann wäre sie jetzt schon fast zu Hause, von Venedig aus war Kibitzstein in wenigen Monaten zu erreichen. Die Sorge um Anastasiahatte sie jedoch davon abgehalten. Wie zum Hohn für sie war die zweite Schwangerschaft der Fürstin ohne Probleme verlaufen, und bei Zoes Geburt hätte jede Magd helfen können. So waren drei Monate verstrichen, in denen sie der Heimat hätte näher kommen können.
    Da Marie glaubte, die Mauern um sich herum nicht mehr ertragen zu können, verließ sie das Schlafgemach der Fürstin und holte sich einen weiten, langen Mantel, der das Kleid aus Damast und Seide verdeckte, welches sie als Angehörige des Hofstaats auswies. Dann wanderte sie durch die verschachtelten Räume und Gänge, bis sie sich auf dem Platz vor dem Gebäude befand. Sie wusste nicht so recht, was sie im Freien tun wollte, denn der Anblick der Außenmauern des Palastes und der Gebäude ringsum war nicht sehr erhebend. Die Sonne brachte den Verfall der Stadt viel unbarmherziger ans Licht als das Halbdunkel in den Zimmern und Fluren. Viele einst stattliche Häuser waren verlassen und zu Ruinen zerfallen, in deren Resten sich arme Leute einquartiert hatten. Hier ersetzten aufgespannte Tücher die fehlenden Wände.
    An jenen Stellen, an denen die Villen und die sie umgebenden Lustgärten ganz verschwunden waren, wurde Gemüse und manchmal sogar Getreide angepflanzt. Dabei handelte es sich noch um den Stadtkern. Bis zum nächstgelegenen Teil der Stadtmauer musste man mehr als eine deutsche Meile nach Westen gehen. Bei Ausflügen, die Anastasia vor ihrer Niederkunft unter dem Schutz bewaffneter Knechte unternommen hatte, war ihr aufgefallen, dass in den Außenbezirken noch mehr Landwirtschaft betrieben wurde als hier im einstigen Viertel der Reichen. Hätte es zwischendurch nicht immer wieder Kirchen und einzelne, mühsam instand gehaltene Wohnhäuser gegeben und wäre nicht die Stadtmauer in der Ferne zu erkennen gewesen, hätte Marie annehmen können, sich auf freiem Feld zu befinden.
    Sie wanderte in Gedanken versunken weiter und passierte dasHippodrom, dessen trauriger Anblick keinen Eindruck mehr von den Leidenschaften vermitteln konnte, die im Lauf vieler Jahrhunderte dort getobt hatten. Nach einer Weile erreichte sie die Hagia Sophia, und da ihr nach einem Gebet zumute war, trat sie ein. Ihr Blick flog nach oben zu der gewölbten Kuppel, die sich so mächtig spannte, dass Marie überzeugt war, ihre Baumeister hätten sie nicht ohne die Hilfe des Himmels errichten können. Eine zweite Kirche dieser Art gab es in der ganzen Christenheit nicht wieder, dessen war sie sich sicher.
    Sie kannte die hoch aufragenden Türme der Kathedralen und Münster ihrer Heimat, doch keines jener Gotteshäuser konnte sich

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