Das Vermächtnis der Wanderhure
Frage beantworten: Bist du der Vater von Frau Schwanhilds Kind oder nicht? Und wage nicht noch einmal angesichts unseres Herrn Jesus Christus einen falschen Eid abzulegen! Jetzt kann deine Seele vielleicht noch gerettet werden, doch danach wäre sie für alle Zeit des Teufels.«
Ingold sank auf die Knie und ergriff die Hände seines Onkels.
»Bei allem, was mir heilig ist, Oheim. Ich habe mit Frau Schwanhild nie jene Dinge getrieben, die nötig sind, um ein Kind zu zeugen.«
Der Priester musterte ihn durchdringend. »Ich will dir glauben.
Doch bete zu Gott dem Herrn, dass Frau Schwanhild mit einem Mädchen niederkommt. Gebiert sie nämlich einen Sohn, so hastdu dich auch an diesem versündigt, denn er wird niemals den Weg ins Herz seines Vaters finden.«
Für einen Augenblick senkte sich Schweigen über die Kapelle. Ingolds Onkel löste seine Hände aus denen seines Neffen und trat einige Schritte zurück. »Am liebsten würde ich dir als Sühne deiner Schuld eine Wallfahrt nach Rom, zum Grab des heiligen Jakobus in Spanien oder gar nach Jerusalem auftragen. Doch das würde nur die Gerüchte nähren, die wir aus der Welt schaffen wollen. Ohne Strafe kann ich dich jedoch nicht lassen, denn wenn du nicht ehrlichen Herzens büßt, wird deine Seele unweigerlich dem Teufel verfallen. Bleibe hier und bete, bis ich zurückkehre.«
Ohne seinen Neffen weiter zu beachten, verließ der Priester die Kapelle. Als er nach einiger Zeit zurückkam, hielt er eine kräftige Haselrute in Händen. Während er damit leicht auf den Boden schlug, funkelte er Ingold auffordernd an.
»Entblöße deinen Rücken, Neffe, denn nun sollst du am eigenen Leibe erleben, was das arme Kind erdulden musste, welches dein falscher Schwur zur Verleumderin machte.«
VII.
D as Leben ist wie eine Schaukel, fuhr es Marie durch den Kopf. Immer wenn man am tiefsten Punkt angelangt zu sein glaubt, geht es wieder aufwärts. Sie war als Sklavin ins ferne Russland verschleppt worden, und nun übte sie das Amt der Oberhofmeisterin der Fürstin Anastasia aus – oder Anna, wie diese sich seit ihrer Rückkehr nach Konstantinopel wieder nennen ließ. Nun beugten Herren von Stand das Knie vor ihr, und hohe Damen, die selbst über die Ehefrau eines Reichsritters auf Kibitzstein die Nase gerümpft hätten, knicksten vor ihr wie vor einer Herzogin.
Maries Blick streifte die schlafende Fürstin, die sich nur in einedünne Gazedecke gehüllt von der Geburt ihres zweiten Kindes erholte. Es war ein Mädchen, das den Namen Zoe erhalten hatte. Anastasia hatte entschieden, dass Marie die Erzieherin der Kleinen werden sollte. Längst war auch nicht mehr die Rede davon, dass Lisa zurückgesetzt und als Sklavenkind behandelt werden müsse. Marie hätte ein Dutzend Dienerinnen mit der Pflege des Mädchens beauftragen und ein weiteres Dutzend für sich selbst fordern können. Immerhin zählte Anastasia zur kaiserlichen Familie in Konstantinopel und brauchte nur ihre Wünsche zu äußern.
Trotzdem hatte Marie es bei der Russin Gelja als einziger Dienerin belassen. Die junge Frau war ihre Leibmagd geworden und passte zusammen mit Alika auf die Kinderschar auf, die mit der neugeborenen Zoe auf vier angewachsen war. Natürlich hatten Wladimir und nun auch das Neugeborene weitere Pflegerinnen, griechische Frauen, mit denen Anastasia sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.
Auch Marie hatte in den nicht ganz drei Monaten, die sie nun schon in der Stadt weilte, ein wenig Griechisch gelernt, doch sie tat sich damit sogar schwerer als Alika. Diese hatte sich nur so viel Russisch angeeignet, wie sie hatte lernen müssen, um nicht wegen ihrer Unwissenheit geschlagen zu werden. Mit der griechischen Sprache kam sie jedoch ausgezeichnet zurecht. Wenn es nach der jungen Mohrin gegangen wäre, hätten sie für immer in dieser Stadt bleiben können. In Konstantinopel gab es keinen Dimitri, der sie auf sein Lager rief, um sich ihrer zu bedienen, und sie bekam auch nicht mehr die Peitsche zu spüren. Stattdessen erhielt sie gutes Essen und trug prächtige Kleidung, wie es der Hofdame einer Fürstin zustand.
Trotz der Verbesserung ihrer Lage spürte Marie, dass sie die Anstrengungen der Flucht aus Worosansk noch nicht abgeschüttelt hatte. Dabei war der letzte Teil der Reise eher gemütlich gewesen. Nachdem sie Terbent Khans Lager verlassen hatten, waren sievon ihrer tatarischen Begleitmannschaft ohne Zwischenfälle bis nach Tana gebracht worden, einem genuesischen Hafen, von dem
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