Das Vermächtnis der Wanderhure
auch nur im Entferntesten mit diesem gewaltigen Bauwerk messen. In der Kirche der heiligen Weisheit war jene Größe am stärksten zu spüren, die Konstantinopel einst ausgezeichnet haben musste. Unter einigen seiner großen Kaiser, deren Namen Marie gehört und schon wieder vergessen hatte, sollte die Stadt einmal mehr als die halbe Welt regiert haben, jetzt kontrollierte sie nicht einmal mehr das gegenüberliegende Ufer des Bosporus, auf das Marie beim Verlassen der Hagia Sophia blicken konnte. Dort herrschten nun dieselben Osmanen, gegen die Kaiser Sigismund als König von Ungarn zu kämpfen hatte.
Auch in die andere Richtung reichte die Macht des Mannes, der sich Kaiser des Oströmischen Reiches nannte, kaum weiter als eine Tagesreise zu Fuß. Jenseits davon gehörte das Land ebenfalls den Osmanen, deren Reiter immer wieder vor den mächtigen Mauern erschienen, welche die Stadt schützten. Angesichts des Verfalls im Innern hätte Marie keinen Heller gegen eine Kiste voller Goldgulden gewettet, dass Konstantinopel dem Würgegriff seiner Feinde noch lange würde standhalten können.
Während ihr die Atmosphäre in der gefährdeten Stadt schier den Atem abschnürte, schienen die Einheimischen sich an ihre Lage gewöhnt zu haben. Sie begegnete Bauern, die mit leeren Eselskarren von den Märkten kamen, Frauen, die ihre Einkäufein Netzen und Körben nach Hause schleppten, und Priestern und Mönchen in schwarzen Kutten. Diese waren hier so zahlreich, dass sie sich fragte, ob es in Konstantinopel noch genügend Männer gab, die einem Handwerk nachgingen oder als Krieger dienten.
In gewisser Weise war es konsequent, so vielen Kirchenmännern Obdach zu bieten, denn nur die Fürsprache des Himmels konnte diese Stadt noch vor der Eroberung durch die Osmanen bewahren. In letzter Zeit, so hatte Marie vernommen, waren Konstantinopels Truppen jedoch mehrfach als Sieger aus irgendwelchen Schlachten hervorgegangen. Daran erinnerte sie sich, als die Leute um sie herum plötzlich aufblickten und dem in der Ferne aufbrandenden Jubel lauschten.
Kurz darauf stimmten Griechen in die Rufe ein. Einer sprang sogar hoch und warf seinen Hut in die Luft. »Konstantinos Dragestes ist zurückgekommen!«
Die Händler vergaßen ihre Waren, die Bauern warfen ihre Hacken weg, und die Frauen am Brunnen ließen die Wäsche in ihre Körbe fallen und schürzten ihre Röcke, um schneller laufen zu können. Alle eilten in die Richtung, aus der der Jubel kam, und Marie wurde so überrascht, dass sie mitrennen musste, um nicht niedergetrampelt zu werden. Das Ziel der Leute war die Straße, die vom Forum des Konstantin zur Hagia Sophia führte.
Schließlich stand Marie eingekeilt in der Menge und sah gut gewappnete Krieger, deren Rüstungen die Spuren von harten Waffengängen trugen, die Straße heraufkommen. Ein Reiter auf einem weißen Hengst, der einen goldschimmernden Plattenpanzer und einen roten Helm trug, führte den Trupp an. Aus der Nähe glich er weniger einem Edelmann als einem vierschrötigen Bauern mit einem aufs Geratewohl zurechtgestutzten Bart, aber auch einem Mann, der Strapazen ertragen konnte und hart zu kämpfen wusste. Seine Miene wirkte ernst und selbstbewusst. Als er indie Menge grüßte, tat er es auch, um die Herzen der Menschen mit Mut zu erfüllen.
Die Jubelrufe der begeisterten Griechen verrieten Marie, dass es sich bei ihm um den jüngeren Bruder des Kaisers handelte, dem es erst vor kurzem gelungen war, den Peloponnes für das Oströmische Reich zurückzugewinnen. Konstantinos Dragestes hatte die Halbinsel allerdings nicht den Osmanen entrissen, sondern christlichen Fürsten, die dort seit zweihundert Jahren geherrscht hatten.
Marie erschien es unbegreiflich, dass Christen angesichts der tödlichen Bedrohung durch die Osmanen gegeneinander kämpften, zumal es hieß, Kaiser Johannes oder Ioannis, wie die Griechen sagten, wolle sich mit dem Papst in Rom aussöhnen und die Kirche des Ostens, die vierhundert Jahre lang ihre eigenen Wege gegangen war, wieder dem Stuhle Petri unterstellen. Im Gegenzug sollte Seine Heiligkeit Martin V. die Herrscher des Westens zu einem Kreuzzug gegen die Osmanen aufrufen, um Konstantinopel von der Bedrohung durch die Heiden zu befreien.
Marie sagte sich, dass sie nur ein dummes Weib war, welches die politischen Züge der hohen Herren nicht nachvollziehen konnte. Aber wenn es Kaiser Sigismund nicht einmal gelang, die Reichsfürsten dafür zu gewinnen, ihn bei der Niederschlagung des
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