Das Vermächtnis der Wanderhure
Beseitigung sogar noch zu einem ausgezeichneten Geschäft.
XII.
M arie tauchte nur langsam aus dem Dunkel auf, das ihren Geist umfangen hielt. Als Erstes fiel ihr auf, dass die Welt um sie herum schwankte und schaukelte wie auf einem Schiff. Irritiert versuchte sie, die Erinnerungsfetzen zu sortieren, und fragte sich, warum man sie schlafend an Bord gebracht hatte. Der Schiffer, den sie angeheuert hatte, wollte doch noch einige Tage in Speyer bleiben und neue Ladung übernehmen. Warum hatte man sie nicht geweckt? War sie krank geworden?
Sie griff sich an den Kopf, der sich anfühlte, als hätte man ihn mit einem festen Band umwickelt, das immer strammer gezogen wurde, und stöhnte bei der Berührung auf. »Anni? Wo bist du? Was ist geschehen?«
Anstelle ihrer tschechischen Leibmagd antwortete jemand in einer Sprache, die wie Vogelgezwitscher klang. Mühsam öffnete sie die verklebten Augen und glaubte im ersten Moment, ihr Herz müsse stehen bleiben. Über sich sah sie ein Wesen, das nur ein Dämon der Hölle sein konnte. War sie gestorben und direkt in Luzifers Schlünde gestürzt? Sie war mehr schockiert als verängstigt, denn sie hätte nie geglaubt, so vieleschwere Sünden begangen zu haben. Dann wurde ihr klar, dass sie noch atmete. Also schien sie nur in einem schlimmen Albtraum gefangen zu sein.
Sie kniff die Augen fest zu und öffnete sie dann vorsichtig. Entgegen ihrer Hoffnung war die schwarze Gestalt immer noch da. Marie presste ihre Hand auf ihr wild springendes Herz und brachte den Mut auf, genauer hinzusehen. Wie ein Teufel sah das Wesen nun doch nicht aus. Wohl wirkte seine Haut in dem spärlichen Licht pechschwarz und das kurze Haar so kraus wie das eines neugeborenen Lammes. Aber es hatte weiße Zähne wie ein normaler Mensch und rote, leicht aufgeworfene Lippen. Seine Augen waren eher braun, und das Weiß, das sie umgab, leuchtete aus dem Gesicht heraus.
Mühsam erinnerte Marie sich, dass sie von solchen Leuten bereits gehört hatte. Man nannte sie Mohren, und sie kamen aus einem Land, das Afrika heißen sollte. Ihre dunkle Hautfarbe bekamen die Einwohner dort von der Sonne, die so heiß vom Himmel schien, dass die Kinder schon verbrannt aus dem Mutterleib kamen.
Bei dem Gedanken an Schwangerschaft und Geburt wollte ihr der Kopf vor Schreck schier zerspringen. Sie fuhr sich mit den Händen an den Leib und stellte panikerfüllt fest, dass ihr Bauch sich glatt, beinahe eingefallen anfühlte. Gleichzeitig glaubte sie sich an Hulda von Hettenheim erinnern zu können, die höhnisch lachend einen prächtigen, neugeborenen Knaben vor ihren Augen wiegte und behauptete, dies sei nun ihr Sohn.
Das Greinen eines Säuglings durchbrach den wilden Tanz in Maries Kopf und ließ sie aufhorchen. Bevor sie sich aufrichten und umsehen konnte, bückte das Mohrengeschöpf sich, hob ein Kind auf und öffnete ihr das Oberteil des Kittels, den sie trug. Erstarrt sah Marie zu, wie die schwarzen Hände ihr den Säugling auf den Leib legten und ihn mit ihrem Arm stützten, so dass das Kind saugen konnte, ohne herunterzurutschen. Das Wesen gingdabei so schnell und geschickt vor, als hätte es die Handgriffe schon sehr oft gemacht.
Im nächsten Augenblick hatte Marie das schwarze Geschöpf schon vergessen, obwohl es neben ihr stehen blieb, als müsse es auf sie aufpassen, denn sie interessierte sich nur noch für das Kind. Es war ihr, als würden mit jedem Tropfen Milch, den das Kleine schluckte, neue Erinnerungen hochgespült, und sie biss sich auf die Lippen, um nicht vor Schmerz und Entsetzen aufzuschreien. Das hier war nicht ihr Kind, sondern Frau Huldas Tochter. Ihren eigenen Sohn wollte dieses Weib zum Nachfolger des Verräters und Mörders Falko von Hettenheim erziehen und zum Feind seines wahren Vaters machen. Wie ein zehrendes Feuer durchlief diese Erkenntnis ihren Leib, und sie bäumte sich auf. Sofort kniete das Mohrenwesen neben ihr nieder und hielt sowohl sie wie auch das Kind fest. Als der schwarze Körper sich gegen sie stemmte, spürte Marie, dass es sich um ein weibliches Exemplar seiner Rasse handeln musste, und die glatte, weiche Haut verriet ihr, dass sie es mit einem Mädchen oder einer noch sehr jungen Frau zu tun hatte.
Zwar war das Aussehen der Mohrin Marie immer noch unheimlich, doch sie war ihr dankbar für die Hilfe und brachte mühsam ein »Vergelt’s Gott!« über die trockenen Lippen.
Die Dunkelhäutige antwortete ihr in ihrer unverständlichen Sprache und schien sich ihren
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