Das Vermächtnis der Wanderhure
Schmerzen. Nach dieser Prozedur war Marie so schwach, dass sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte, und so trug Alika sie mehr, als sie sie stützte, bis sie ihr primitives Lager erreicht hatte. Unter dem leeren Sack, der ihr als Bett diente, lag ebenfalls Stroh, doch das war inzwischen bretthart geworden und stank faulig.
Da Marie nichts anderes übrig blieb, ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer nieder und drückte das Kind wieder an sich. Dabei bemerkte sie, dass die Bewegung ihrem Kopf gut getan hatte, denn sie erinnerte sich mit einem Mal an jene Tage in Hulda von Hettenheims Gefangenschaft, an denen man ihr keinen Betäubungstrunk eingeflößt hatte. Sie nahm an, dass ihre Feindin sie nicht auf ihre Stammburg gebracht hatte, sondern auf die Festung aus Hettenheimer Besitz, die am weitesten von allen Handelsstraßen entfernt lag und vor überraschenden Besuchern weitestgehend sicher war. An den Namen hätte sie sich eigentlich erinnern müssen, denn er war bei einem Wortwechsel zwischen Marga und den Wachtposten gefallen. Aber sie wusste nicht mehr, als dass es sich um ein Tier gehandelt hatte. Trotz allen Nachsinnens kam Marie nicht darauf, und so begann sie, die Bezeichnungen einiger Tiere aufzusagen.
»Wolf war es nicht. Vielleicht Fuchs? Fuchsburg? Nein! Wiesel? Dachs? Es war etwas Kleines, ein Marder oder ein Otter. Otternburg?Ja, so hieß sie!« Marie genoss einen Augenblick lang den Triumph, einen Schlüssel zu Frau Huldas Schuld in den Händen zu halten. Doch wie sollte sie aus diesem Wissen Kapital schlagen? Den Geräuschen und Bewegungen nach zu urteilen befand sie sich auf einer Art Gefangenenschiff, das sie zu einem unbekannten Ziel brachte. Sie würde ihre Umgebung genauestens beobachten und auf jeden noch so kleinen Hinweis achten müssen, um die erste Möglichkeit zur Flucht erkennen und nutzen zu können, ganz gleich, an welchen Ort sie das Schicksal verschlug. Sie hatte die heilige Pflicht, ihren Sohn zurückzuholen und seinem Vater in die Arme zu legen. Dabei würde es nur ein angenehmer Nebeneffekt sein, die Pläne ihrer Feindin zu durchkreuzen, Heinrich von Hettenheim zu seinem Erbe zu verhelfen und ihre Rachegelüste zu stillen.
Nun glitten ihre Gedanken zu Michel, und sie stellte sich vor, wie verzweifelt er nach ihr suchen würde. Sie glaubte ihn vor sich zu sehen, verhärmt und niedergeschlagen von den vergeblichen Versuchen, sie zu finden. Bei dieser Vorstellung fauchte sie, so dass Alika und die Kinder in ihrer Nähe zusammenzuckten und sie erschrocken anstarrten. Sie bemerkte es kaum, denn in ihrem Kopf war nur Platz für ihren Mann, Trudi und ihren noch namenlosen Sohn, der sich in den Händen einer unberechenbaren Verrückten befand. Wie sie Hulda einschätzte, würde die Frau in dem Augenblick, in dem ihr Hass auf sie und Michel ihre Habgier überwog, den Jungen sterben lassen oder sogar eigenhändig umbringen. Bei dieser Vorstellung stiegen ihr die Tränen in die Augen, und in ihrer Kehle ballten sich Schreie, mit denen sie ihre Verderberin verfluchen und ihr Schicksal beklagen wollte. Sie begriff jedoch, dass sie sich diesen Gefühlen nicht hingeben durfte, wenn sie nicht in Gefahr geraten wollte, selbst den Verstand zu verlieren.
Mit zusammengebissenen Zähnen hielt sie sich eine stumme Predigt. Du bist fünf harte Jahre als Wanderhure über die Straßengezogen, Marie, und hast einen grauenhaften Winter in der Gefangenschaft der Taboriten überstanden. Also wirst du auch jetzt nicht aufgeben! Du wirst durchhalten, ganz gleich, was mit dir geschehen mag, denn du musst zurückkehren, deine Feindin anklagen und deinen Sohn zurückfordern, und wenn du den Pfalzgrafen oder gar Kaiser Sigismund persönlich für seine Rückgabe verantwortlich machst.
Während sie auf sich selbst einhämmerte, begriff sie, dass sie sich den Rückweg wahrscheinlich auf eine Art und Weise erkämpfen musste, die es ihr unmöglich machen würde, weiterhin als Edeldame an Michels Seite zu leben. Wahrscheinlich würde ihr zu guter Letzt nichts anderes übrig bleiben, als ihrem Gemahl das Kind in die Arme zu drücken und aus seinem Leben zu verschwinden.
XIII.
R itter Heinrich von Hettenheim empfand Burg Kibitzstein als tristen, wenig einladenden Ort, und das lag nicht allein an dem trüben Wetter und dem Regen, der wie ein dichter Vorhang vom Himmel fiel. Es war, als trauere sogar die Landschaft rings um die Festung. Bisher hatte er nur Gerüchte über Maries Tod gehört. Aber alles in
Weitere Kostenlose Bücher