Das Vermaechtnis des Caravaggio
glaubte er nur noch
eine kleine Schwelle überwinden zu müssen, bis er sich erinnerte, aber sein
Gedächtnis versagte.
„Wusstet Ihr, dass Giovan Battista,
so heißt doch Euer zweiter Bruder, vor allem Beziehungen zu Männern unterhält?“
War Micheles Schwester bislang
ruhig dagesessen und hatte von dieser Haltung aus das Geschehen kontrolliert,
fuhr sie jetzt auf.
„Auf solche Unterstellungen weigere
ich mich zu antworten. Verlasst das Haus! Raus!“
Die letzten Worte schrie sie
regelrecht.
Enrico, der froh gewesen war,
seinen müden Rücken zu entspannen, erhob sich. Jetzt hatte er sie, wo er sie
brauchte. Die nächste Frage musste einschlagen und zerplatzen wie eine
Mörserkugel.
„Signora, ich verlasse Euer Haus.
Aber man verbreitet in Rom, Michele Merisi sei ein Schwesternschänder gewesen.
Stimmt dies?“
Zuerst wurde Micheles Schwester
weiß wie die Wand, dann glühte plötzlich ihr Hals auf, als wäre er in rote
Tinte getaucht worden. Sie rang nach Atem, rang um Worte, brachte aber nur ein
Gurgeln hervor, das sich in einem unkontrollierten Schrei entlud, dem Enrico
etwa so viel zu entnehmen vermochte, als sie ihn mit Hilfe ihres Mannes
vierteilen und rädern lassen wolle. Dann sank sie auf ihre Chaiselongue nieder,
lief blau an und rang nach Luft.
Enrico verbeugte sich und verließ
rückwärts das Empfangszimmer. Die Reaktion Caterina Merisis genügte ihm.
Niemand verhielt sich so, wenn sich nicht eine Wahrheit dahinter verbarg.
Langsam ging er die Treppen hinab,
immer auf der Hut, nicht zu stürzen. Am Ende des Absatzes angekommen, hörte er
ein Zischen, das ihn aus seinen Überlegungen riss. Die Alte winkte ihn in einen
Teil des Gebäudes, der die Küche enthielt.
„Ihren Verlobten hat er umgebracht.
In einem Duell hat Michele ihn erstochen. Sie liebte ihn. Sehr sogar.“
Enrico pfiff durch die Zähne.
„Warum verratet Ihr mir das?“
Sie sah ihn an mit ihrem durch die
Zeit hindurch mürrisch gewordenen Blick.
„Wenn ihr über den berühmten Maler
schreibt, dann sollte darin stehen, dass er ein Mörder war, dass er mit Blut an
den Händen gemalt hat, dass seine Bilder vielleicht nichts anderes sind als
eine immerwährende Buße. Die Darstellung von Heiligen gegen das Ewige Leben.“
Sie zeigte ihm eine unvollständige Reihe von Zähnen. „Wenn man ein Kind
gestillt hat, nimmt man Teil an seinem Leben. Zerstört hat er sie, und deshalb
will ich, dass er keinen Heiligenschein bekommt. Man muss ihn nicht verdammen,
aber richten!“ Dann schickte sie ihn hinaus. Mit einer Geste. Wortlos.
Bevor er jedoch die Schwelle
überschritt, pfiff sie. Enrico drehte sich um. Ganz nah trat die Alte an ihn
heran, so nah, dass es ihm unangenehm wurde und ihm der Küchengeruch in die
Nase stieg, der sie umgab.
„Hat sie Euch von ihrer Tochter
erzählt?“
„Sie hat eine Tochter?“
„Sie hatte eine Tochter. Bildhübsch.“
„Ist die gestorben?“
Die Alte zuckte mit den Schultern,
als hätte sie schon zu viel verraten. Dann schob sie ihn vorwärts zur Tür und
schlug diese hinter ihm zu. Was sollte diese Bemerkung? Warum blieb sie so
einsilbig?
In Mailand würde er schwerlich
bleiben können. Wenn Caterinas Mann von dieser Demütigung erfuhr, würde er ihn
verfolgen lassen. Er stolperte geradezu auf die Straße und ins Licht. Geblendet
schloss er die Augen. Plötzlich stand ihm das Bild vor Augen, erinnerte sich
Enrico, wo er das Gesicht Caterinas bereits einmal gesehen hatte. Sie schien
zehn bis fünfzehn Jahre jünger zu sein, die Hautfalten aber bereits im Ansatz
ausgeprägt, die Haut glatter und der Blick nicht von der Müdigkeit der
Resignation gezeichnet, sondern noch feurig und anklagend. Auf dem Gemälde, das
Michele ‘Das Haupt des Johannes’ nannte, hatte er Caterina Merisis jüngeres
Konterfei gesehen. Sie war die Salome. Natürlich. Sie forderte den Kopf des
Täufers.
9.
„Michele?“
Nerina flüsterte unsicher den Namen
der Gestalt hinterher, der sie folgte, seit diese aus dem Großmeisterpalast
gestolpert war. Im gleißenden Sonnenlicht hätte sie Michele beinahe übersehen,
aber die wild um den Kopf stehenden Haare und sein martialisches Auftreten mit
dem Degen an der Seite, auf dessen Griff eine Hand ruhte, hatten sie neugierig
werden lassen. Unvermittelt blieb der Mann stehen, ohne sich umzudrehen. Nur an
einer unscheinbaren Bewegung des Umhangs ahnte sie, dass er den Degen gefasst
hatte und bereit war, auf das geringste Geräusch hin diesen zu zücken
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