Das Vermaechtnis des Caravaggio
Enrico.“
Sie erinnerte sich, wie Pater
Leonardus beim ersten Anblick von Neapel, das sich nördlich des gewaltigen Vesuvkegels
duckte, von Enrico und Michele gepackt und über Bord geworfen worden war,
obwohl er sich wehrte und Verwünschungen ausstieß. Eine etwas rüde, aber sehr
erfolgreiche Methode.
„Glaubst du, er hat es an Land
geschafft?“
„Wer?“
„Enrico! Pater Leonardus
natürlich!“
„Michele meinte, er sei ein guter
Schwimmer. Wenn er seine Soutane losgeworden ist, dann ist es ihm sicherlich
gelungen. Mach dir keine Sorgen.“
Sorgen quollen nicht in ihr auf,
sondern allein die Frage, was Pater Leonardus unternehmen würde, wenn er
tatsächlich das Ufer erreicht hatte. Daraus konnten ihnen Sorgen erwachsen.
Dennoch kehrten ihre Gedanken immer wieder zu Michele zurück, dessen Verhalten
sie verstörte.
„Seine Lebenslust ist eine
Zerstörungswut!“, klagte Nerina. „Als wolle er die letzten Momente seines
Lebens genießen, wie die Maus, die das Stück Käse frisst, bevor die Falle über
ihr zuschlägt.“
„Hat er das Bild bereits bekommen?“
Schrille Schreie hallten bis zu
ihnen herüber, und Enrico drückte Nerina an sich. Sie erfühlte an ihrem
Oberschenkel, dass Enricos Kraft erwacht war. Da sie wollte, dass dies noch
eine Zeit so blieb, rieb sie ihren Schenkel an seinem Beinkleid. Gänzlich
unbeteiligt erzählte sie ihm jedoch, was sie dachte. Sie wollte ihn reizen.
„Du meinst die Geißelung? Ja.“
„Hat er je einmal ein Bild
zurückgefordert und ergänzt?“
„Nein, niemals. Neu gemalt hat er
viele, aber eine Figur hinzugesetzt niemals, Enrico. Dabei malt er nur eine
einzige Figur hinein, die mich fatal an Fra Domenico erinnert, die Haltung, der
Bart, das Gesicht mit den starken Querfalten auf der Stirn.
„Er hat das Bild verdorben.“
„Niccolo Radulovic wird es nicht
stören. Für den Kaufmann zählt der Name Caravaggio, nicht die Ausgewogenheit
einer Szene. Die wird er nicht beurteilen können. Eine Figur mehr aber, die
fällt ins Gewicht – und sie ist kostenfrei.“
Nerina wusste nicht, ob sie lachen
oder weinen sollte. Was Michele dazu veranlasst hatte, gerade in die Geißelung
des Kaufmanns die Figur Fra Domenicos einzusetzen, konnte sie nur vermuten.
Gnadenlos, getrieben von namenloser
Gewalt, packte er auf dem Bild Christus am Schopf und drückte ihn zu Seite. Das
Rutenbündel, mit dem er zuschlug, lag in der Rechten. Sie war verkrampft, die
Schulter entblößt von der Bewegung, die Muskeln schwollen vor Kraft vom
Zuschlagen. Festgehalten im Moment des Losschlagens, fror Michele die Bewegung
ein, während Christus sich in Demut abwandte, den Schlag erwartete, ihn
regelrecht hinnahm. Angst und Lust der Gewalttätigkeit, die ins Gesicht des
Geißlers geschrieben waren, fanden bei ihm keine Entsprechung.
„Das Gesicht Fra Domenicos wird
beim Kaufmann versteckt, Enrico. Das ist es. Er malt es in dieses Bild, weil
niemand weiß, dass er es sich wieder geholt hat. Die Geißelung ist fertig. Sie
wurde angesehen und von den Sammlern Neapels begutachtet. Jetzt gilt sie als
bekannt. Niemand vermutet in ihr ein Geheimnis. Ob er sich damit absichern
will, weil ich dem Pater den Vorschlag gemacht hatte, ‘Das Haupt des Johannes’
zu erstehen?“
Aus dem hinteren Garten, dort wo
Springbrunnen und Wasserspiele das Grün auflockerten, drang erneut das
Kreischen der Nymphen. Wieder küsste Enrico Nerinas Hals, doch sie reagierte
nicht, zu sehr war sie von ihren Gedanken gefangen. Zumindest ihrer letzten
Vermutung wollte sie nachgehen, sie zu Ende denken.
„Deine Fantasie, Nerina. Wer
versteckt gerade dort ein Porträt, wenn niemand dessen Auflösung zu erzählen
weiß?“
„Es ist das einzige Porträt auf
diesem Gemälde. Es kommt bei ihm mittlerweile häufiger vor, immer in Bildern,
die nicht allzu sehr in der Öffentlichkeit stehen. Damit rächt er sich – und er
zähmt seine Angst. Gestern träumte er davon. Ich habe ihn im Nebenzimmer
stöhnen und den Namen Fra Domenico aussprechen hören.“
Dass Michele auch ihren Namen immer
wieder gestammelt hatte, dass er ihr verzeihen wollte, was auch immer es sein
mochte, das verschwieg sie Enrico, wusste aber nicht, warum. Sie folgte einem
Gefühl, einer Eingebung. Warum traf sie die Nennung ihres Namens in der Nacht
so tief? Gehörte es nicht zum Alltag, dass sie in seinen Träumen auftauchte?
Schließlich hatte er sie vor einigen Jahren noch als Mädchen zu sich genommen –
und mittlerweile war sie zu einer
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